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800 Tote bei Bootsunglück

Bei einem Bootsunglück im Mittelmeer sind vor mehr als eineinhalb Jahren rund 800 Flüchtlinge gestorben. Europa reagierte: Ein Sondergipfel wurde einberufen, die Verteilung von Flüchtlingen vorgeschlagen und der Kampf gegen Schlepper verstärkt. Aber das Drama im Mittelmeer sollte nicht die letzte Katastrophe in jenem Sommer bleiben. Eine Chronologie bis zur „Grenzöffnung“ Anfang September 2015:

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19. April 2015: Vor der Küste Siziliens kentert erneut ein Flüchtlingsboot, bis zu 800 Tote werden befürchtet. Erst wenige Tage zuvor wurden laut Überlebenden 400 Menschen nach einem Unglück vermisst.

20. April: Im Mittelmeer gerät ein Flüchtlingsschiff mit mehr als 300 Menschen in Seenot. Angesichts der jüngsten Flüchtlingsdramen kündigen die EU-Außen- und -Innenminister einen verstärkten Kampf gegen Schlepper und mehr Seenotrettung an. Der Zehnpunkteplan wird beim Sondergipfel am 23. April diskutiert.

23. April: Die EU-Staaten beschließen im Rahmen des Sondergipfels eine Verdreifachung der Mittel für die Seenotrettung im Mittelmeer. Weitere Punkte in der Schlusserklärung: verstärktes Vorgehen gegen Schlepper, Kampf gegen illegale Migration sowie Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge in Europa.

29. April: Die Anzahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge - vorwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak - verdreifacht sich im Quartal 2015 im Vergleich zu 2014 beinahe. Waren es 2014 mehr als 2.860 Menschen, die zumeist über die Türkei auf dem Seeweg griechischen Boden erreichten, kommen in den ersten drei Monaten 2015 bereits um die 11.000 Flüchtlinge in das EU-Land. Der Polizeichef der Insel Kos sagt: „Wir kapitulieren.“

Die EU-Kommission will unterdessen ein Quotensystem für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas vorschlagen und tritt damit eine Diskussion über die Verbindlichkeit des Verteilungsschlüssels los. Wien, Berlin und Rom sprechen sich dafür aus. Die schärfsten Kritiker sind osteuropäische und baltische Länder sowie Großbritannien.

7. Mai: Die deutsche Regierung korrigiert ihre Prognose für die Zahl der Asylwerber deutlich nach oben: Für 2015 werden nun mehr als 450.000 Asylanträge erwartet. Italien rechnet unterdessen mit 200.000 Flüchtlingsankünften bis Jahresende.

14. Mai: Angesichts zuletzt stark gestiegener Asylzahlen leitet Wien Notmaßnahmen ein: Erstmals seit vielen Jahren werden Flüchtlinge in Österreich wieder in Zeltstädten untergebracht.

26. Mai: Die EU-Kommission legt ihren Gesetzesvorschlag zur Umverteilung von 40.000 Flüchtlingen binnen zwei Jahren aus Italien und Griechenland innerhalb Europas vor. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex weitet unterdessen ihr Einsatzgebiet vor der Küste Italiens mit einem Gebiet von bis zu 138 Seemeilen (255 Kilometer) deutlich aus.

9. Juni: Rund 102.000 Menschen fliehen seit Beginn des Jahres in Booten über das Mittelmeer nach Europa. Ein besonderer Anstieg wird in Griechenland verzeichnet.

18. Juni: Ungarn schließt die Grenze zu Serbien und errichtet einen Drahtzaun; Österreich schickt 40 Polizisten zur Grenzsicherung in sein Nachbarland.

22. Juni: Die EU-Außenminister geben den Startschuss für den Marineeinsatz der EU im Kampf gegen Schlepper im Mittelmeer.

26. Juni: Der EU-Gipfel lehnt eine verpflichtende Flüchtlingsquote ab.

8. Juli: Im serbischen Presovo an der Grenze zu Mazedonien treffen täglich bis zu 1.000 Flüchtlinge ein. Die Anzahl der Asylanträge in den EU-Staaten steigt im Vorjahresvergleich um 43 Prozent auf 660.000.

9. Juli: Die EU-Innenminister einigen sich auf die Umsiedelung von 20.000 bereits von der UNO anerkannten Flüchtlingen direkt aus Krisengebieten - Österreich beteiligt sich mit 400. Die Umverteilung von 40.000 weiteren, über Italien und Griechenland in die EU eingereisten Schutzsuchenden scheitert u. a. an Österreich.

31. Juli: Niederösterreich verkündet wegen Überfüllung des Lagers eine Aufnahmesperre für Traiskirchen.

21. August: Die mazedonische Polizei geht laut Berichten mit Tränengas gegen Flüchtlinge am Grenzübergang Gevgelija vor. Einen Tag zuvor hat das Westbalkan-Land den Ausnahmezustand ausgerufen.

25. August: Deutschland beschließt, syrische Flüchtlinge nicht mehr in andere EU-Staaten zurückzuschicken, und setzt damit die Dublin-Prüfung bei den Bürgerkriegsflüchtlingen aus.

27. August: Flüchtlingstragödie auf der Ostautobahn (A4): Mehr als 70 Tote werden im Burgenland im Laderaum eines Kühl-Lkw gefunden.

31. August: Flüchtlinge stürmen in Budapest Züge nach Deutschland und Österreich. Die Polizisten, die zuvor auf dem Ostbahnhof die Schutzsuchenden von den Zügen ferngehalten haben, sind laut Medienbericht „auf einen Schlag verschwunden“.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel spricht von einem „Missverständnis“ mit Budapest. Die Dublin-Verordnung in Europa gelte nach wie vor. Wenige Tage zuvor hat Deutschland angekündigt, syrische Flüchtlinge nicht mehr in andere EU-Staaten zurückzuschicken. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner betont, die Aussetzung von Dublin komme nicht infrage.

Die ÖBB weigern sich aufgrund von „Überfüllung“ der Züge, diese an der österreichisch-ungarischen Grenze zu übernehmen. Rund 300 Menschen stranden. Nach Wien schaffen es zunächst etwa 3.650 Flüchtlinge. Lediglich sechs Afghanen stellen einen Asylantrag. Der Rest reist in Richtung Deutschland weiter.

In Mazedonien kommen unterdessen laut UNO-Angaben täglich 3.000 Flüchtlinge an.

1. September: Ungarn schließt den Budapester Ostbahnhof vorübergehend. Die Polizei räumt das Gebäude und verhindert die Weiterreise Tausender Flüchtlinge. In Wien kommen dennoch weiter Züge aus dem Nachbarland an. Bayern kündigt an, die Flüchtlinge nicht nach Ungarn zurückzuschicken.

2. September: Tausende Flüchtlinge harren weiter in der Transitzone vor dem Budapester Ostbahnhof aus. Das Chaos wird größer, kritisieren Mitarbeiter der Hilfsorganisation Migration Aid. Die Lage auf Österreichs Bahnhöfen ist laut ÖBB „sehr ruhig“. Auch in Deutschland kommen nur noch wenige Flüchtlinge aus Ungarn an. An der griechisch-mazedonischen Grenze warten Hunderte Flüchtlinge auf ihren Einlass in Richtung Westeuropa. Italien verschärft die Grenzkontrollen auf dem Brenner.

Das Foto des dreijährigen Aylan aus Syrien, dessen Leichnam nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes an einen türkischen Strand gespült wird, sorgt unterdessen weltweit für Bestürzung.

3. September: Die ungarische Polizei macht Flüchtlingen den Weg auf dem Budapester Ostbahnhof wieder frei. Tausende drängen nach 8.00 Uhr auf die Bahnsteige, es spielen sich chaotische Szenen ab. Laut Polizeiangaben sollen zwei Sonderzüge mit Flüchtlingen in Richtung Österreich abfahren. Der Zug mit Hunderten Flüchtlingen bleibt laut Medienberichten jedoch in der Nähe eines der größten Aufnahmelager Ungarns stehen.

Ungarns Regierungschef Viktor Orban sieht die Ursachen der jüngsten Zuspitzung der Flüchtlingskrise in Deutschland. „Das Problem ist nicht ein europäisches Problem, das Problem ist ein deutsches Problem.“ Keiner der Flüchtlinge wolle „in Ungarn bleiben“, „alle wollen nach Deutschland gehen“.

Bundeskanzler Werner Faymann zitiert den ungarischen Botschafter für den 4. September ins Kanzleramt.