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Gekommen, um zu helfen

In der Nacht auf den 5. September 2015 haben mehrere Tausend Flüchtlinge in strömendem Regen die Grenze aus Ungarn nach Österreich überquert. „Aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu“, hatten die österreichische und die deutsche Regierung kurz davor bekanntgegeben.

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Es war ein Wochenende, das vielen in Erinnerung bleiben sollte. Um 3.00 Uhr wurden die ersten Flüchtlinge in Nickelsdorf von Freiwilligen und NGOs mit warmen Decken und Essen versorgt. Busse und Sonderzüge der ÖBB warteten, die die Menschen weiter nach Wien brachten. An den Wiener Bahnhöfen kamen an diesem Tag aber nicht nur Geflüchtete an, sondern auch mehr und mehr Menschen, die Lebensmittel, Kleidung, Schuhe brachten – und blieben, um dort anzupacken, wo es gerade nötig war.

„Unglaubliche Solidarität“

„Die Solidarität, die es plötzlich gegeben hat, war schier unglaublich“, so Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien, rückblickend im Gespräch mit ORF.at. Unterstützt von Tausenden Freiwilligen organisierte die Caritas in den folgenden Tagen und Wochen die Flüchtlingshilfe auf dem Wiener Westbahnhof. „Wir haben Studentinnen und Studenten hier gehabt, die zehn, zwölf, 16 Stunden am Tag geholfen haben, denen wir sagen mussten, bitte macht Pausen“, erzählt Schwertner.

Flüchtlingskind

APA/Herbert Pfarrhofer

Auch Stofftiere und Spielzeug wurden kiloweise zu den Bahnhöfen gebracht

„Ich erinnere mich an viele Situationen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie in Österreich möglich sind: Menschen, die gesagt haben, ich nehme eine Flüchtlingsfamilie zu mir nach Hause, ich lasse sie in meinem Bett, auf meiner Couch schlafen, sie können sich duschen und essen." Es habe eine unglaubliche Mobilisierung von Menschen gegeben, die gesagt hätten, „wir schauen da nicht länger zu“.

Wasserflaschen, Bananen, Fladenbrote, Windeln

Kurz nach 7.00 Uhr am 5. September gab die Polizei bekannt, dass bereits rund 3.000 Menschen die Grenze überquert hätten. Um 10.00 Uhr twitterte das Innenministerium, es würden insgesamt 10.000 Flüchtlinge erwartet. Nicht nur auf dem Westbahnhof, auch fünf Kilometer weiter, auf dem Wiener Hauptbahnhof, ging es in diesen Stunden hektisch zu. Mehr und mehr Wienerinnen und Wiener kamen zum Ostende des Bahnhofs und brachten Schuhe, Kleidung, Wasserflaschen, Windeln, Bananen, Fladenbrote. Auch hier blieben die Menschen, um zu helfen: beim Sortieren von Kleidung und Schuhen, beim Streichen von Broten und bei der Betreuung von Flüchtlingen auf den Bahnsteigen.

Innerhalb von nur wenigen Stunden entstand in von den ÖBB zur Verfügung gestellten Räumen in Ankunftshalle 2 eine professionelle Infrastruktur - mit Kleider- und Essensausgabe und Spendenlager, mit Schlafbereich und Kinderspielbereich. Medizinische Notfälle wurden in einer mit 20 Betten ausgestatteten Erste-Hilfe-Station versorgt. Der Hauptbahnhof war im Herbst 2015 das Spiegelbild zum Westbahnhof: Während auf dem Westbahnhof die Caritas die Flüchtlingshilfe organisierte und von Freiwilligen unterstützt wurde, übernahm auf dem Hauptbahnhof die Zivilgesellschaft die Organisation, unterstützt von NGOs.

Helfer bei der Arbeit am Wiener Hauptbahnhof

ORF.at/Dominique Hammer

Tausende Fladenbrote wurden im Herbst 2015 auf dem Hauptbahnhof mit Humus bestrichen

Train of Hope nannte sich die Initiative, die wie viele andere private Flüchtlingshilfeorganisationen 2015 entstanden. „Wir waren uns im Klaren, dass wir vor einer riesigen Herausforderung standen, bei der Fehler auch böse enden können. Die Lernkurve war steil“, sagt Julian Pöschl von Train of Hope rückblickend. Die Nächte auf dem Bahnhof seien eine unvergleichliche Erfahrung gewesen: „Die schwere Stille eines Raums, wenn Menschen das erste Mal seit Wochen in Sicherheit schlafen, hat etwas Überwältigendes an sich.“

Für die Leute bei Train of Hope sei von Anfang an klar gewesen, dass es für eine funktionierende Integration auch ausschlaggebend sei, wie wir schutzsuchende Menschen bei uns empfangen, so Pöschl im Interview mit ORF.at: „Wenn wir sie alleine lassen und lediglich mit professioneller Distanz behandeln, dabei monatelang im Ungewissen lassen, während sie oft um das Überleben ihrer Familie bangen, ist es für mich einfach nicht vorstellbar, dass danach noch viele Gefühle außer Frust vorhanden sein sollen.“

Zunehmende Polarisierung

An den Wiener Bahnhöfen, in Salzburg, Nickelsdorf, Spielfeld, Traiskirchen und vielen anderen Orten gaben Österreicherinnen und Österreicher geflüchteten Menschen nicht nur Lebensmittel und Wasser, Kleidung und Schlafplatz, sondern auch ein Gefühl von Sicherheit. Als immer mehr Staaten wieder Grenzkontrollen einführten, Zäune errichteten und die Balkan-Route nach und nach geschlossen wurde, änderte sich die Form der Hilfe - von der akuten Nothilfe hin zur Unterstützung bei der Integration: beim Deutschlernen, bei Behördengängen und bei der Wohnungssuche.

Auch die Schauplätze änderten sich: weg von den Bahnhöfen und hin zu den Gemeinden, in denen Asylwerberinnen und Asylwerber untergebracht waren. Gleichzeitig veränderte sich aber auch die Stimmung im Land. Die Euphorie, die im Herbst 2015 im Vordergrund stand, wurde von einer zunehmenden Polarisierung verdrängt. Viele Menschen äußern Angst, gegenüber Asylwerberinnen und Asylwerbern benachteiligt zu werden, und Angst vor kulturellen und religiösen Konflikten.

Flüchtlinge

APA/Herbert Pfarrhofer

Viele Geflüchtete kamen in Österreich zum ersten Mal seit Wochen ein wenig zur Ruhe

Das Tragische an der steten Aufrüstung der Worte sei, dass die Kritik prinzipiell oftmals angebracht ist, sagt Pöschl: „Unser System ist nicht fair, aber das eine ist berechtigte Wut über Missstände und das andere ist Rassismus. Die FPÖ wirft beides zusammen und mischt sich ihre eigene, brandgefährliche Ideologie. Die beiden Regierungsparteien fallen scheinbar auf dieses Spiel herein und haben bis heute nicht verstanden, dass sie gerade dadurch einen guten Teil ihrer Glaubwürdigkeit verloren haben.“

Die Polarisierung dürfe man nicht mit der Solidarität vermischen, die es bis heute gibt, so Schwertner: „Die Solidarität hat sich verändert und das führt dazu, dass wir glauben, diese Solidarität ist nicht mehr da. Sie passiert mittlerweile an ganz vielen Orten, in ganz Österreich.“ Im vergangenen Herbst hätten etwa nur ein Drittel der Gemeinden Asylwerber und Asylwerberinnen aufgenommen, heute seien es bis zu zwei Drittel. „Die Renaissance der Zivilgesellschaft erleben wir bis heute“, sagt Schwertner.

Freiwillige haben „wichtige Lotsenfunktion“

Laut einer Studie der deutschen Bertelsmann Stiftung kommt freiwilligen Helfern eine zentrale Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu. Die Arbeit der Freiwilligen verstärke „unverkennbar eine positive Stimmung“ gegenüber Flüchtlingen. Besonders wichtig sei zudem ihr Einsatz als „Brücke zwischen den Geflüchteten und den Behörden“. Sie übernähmen „wichtige Lotsenfunktionen“, indem sie Geflüchtete bei Behördengängen unterstützten oder diese bei den ersten Schritten in Schulen und Praktika begleiteten.

Städte und Gemeinden seien gut beraten, mehr Koordinierungsstellen aufzubauen und freiwilliges Engagement öffentlich mehr anzuerkennen. Ohne die ehrenamtlichen Initiativen hätten die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Flüchtlinge „wenig Kontakt mit der Zivilgesellschaft“, heißt es der im August veröffentlichten Studie.

Alleine bei der Caritas meldeten sich seit vergangenem Sommer mehr als 15.000 Menschen als Freiwillige in der Flüchtlingshilfe. Im Diakonie Flüchtlingsdienst verdoppelte sich das Engagement Freiwilliger im letzten Jahr. Rund tausend Österreicher stellten der Diakonie im vergangenen Jahr außerdem privaten Wohnraum für Asylwerber zur Verfügung. Neben dem Engagement von Freiwilligen in NGOs wurden seit Sommer 2015 unzählige private Initiativen ins Leben gerufen, die Menschen nach der Flucht in ihrer neuen Heimat zur Seite stehen.

Romana Beer, ORF.at

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