„Echte Chance“ oder Risiko für Moskau?
Die Europäische Union (EU) ist nach wie vor erschüttert vom „Brexit“-Votum Großbritanniens. Im September wollen die Regierungschefs der verbliebenen 27 Mitgliedsländer den Umgang mit Großbritannien und das weitere Vorgehen in der EU klären. Auch außerhalb der EU hat der nahende Austritt Großbritanniens Auswirkungen.
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In einem Artikel des US-Politikmagazins „Foreign Affairs“ wird der „Brexit“ als „echte Chance“ für den russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnet - und das gleich auf mehreren Ebenen. Innenpolitisch sei der „Brexit“ ein Gewinn für Putin. Denn dass ein Mitgliedsland die EU verlassen wolle, heize seine eigene „nationalistische Agenda“ an und stärke die Unterstützung im eigenen Land.
Auswirkungen auf EU-Sanktionen möglich
Auch außenpolitisch profitiere Putin, so „Foreign Affairs“. David Cameron, der nach dem „Brexit“-Votum als britischer Premier zurückgetreten ist, war ein offener Kritiker Putins. Um die Briten von einem Nein zum „Brexit“ zu überzeugen, hatte Cameron vor dem Referendum etwa das Drohbild bemüht, Putin werde sich freuen, wenn Großbritannien aus der EU austritt. Russland habe sich „in die Frage eines ‚Brexit‘ nie eingemischt, sich nie darüber geäußert, es hat sie nicht beeinflusst und das auch nie versucht“, konterte Putin auf den Vorwurf.

ReutersStefan Rousseau
Putin und Cameron bei einem Treffen in Paris 2014
Cameron galt innerhalb der EU zudem als Verfechter einer harten Linie gegen Russland in Bezug auf die Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs. Ohne Großbritannien in der EU kann sich der Kreml „Foreign Affairs“ zufolge eine Lockerung oder Aufhebung der EU-Sanktionen erhoffen. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte am Tag nach dem „Brexit“-Votum, er erwarte keine sofortigen Auswirkungen auf westliche Strafmaßnahmen, doch die Sanktionen gegen Russland gelten innerhalb der EU als umstritten.
Dominantes Deutschland „nicht wünschenswert“
Moskau sei daran interessiert, dass die Europäische Union eine blühende, stabile und berechenbare Wirtschaftsmacht bleibt, so Peskow. Die EU sei ein wichtiger Partner Russlands. Der „Foreign Affairs“-Artikel sieht das anders: Sollten andere EU-Länder im Zuge des wachsenden Nationalismus in Europa dem Beispiel Großbritanniens folgen, würde Putin das nur begrüßen und die Situation für seine Zwecke nutzen.
Der Politologe Andrej Suschenzow, Geschäftsführer des kremlnahen Diskussionsforums Waldai-Klub widerspricht der Behauptung, dass Russland vom „Brexit“ politisch profitiere. „Für Russland bedeutet der ‚Brexit‘ dasselbe wie für alle anderen europäischen Länder, nämlich Ungewissheit“, hatte Suschenzow kurz vor dem Referendum am 23. Juni gesagt. Nach einem Austritt Großbritanniens werde wohl Deutschland die EU dominieren, und das wäre für Russland „nicht wünschenswert“. Zudem könnte eine Allianz Großbritanniens mit den USA und den russlandkritischen EU-Ländern im Osten entstehen.
Putin: „Verwischen von Ländergrenzen“
Putin hatte die „Brexit“-Entscheidung Großbritanniens am 24. Juni, dem Tag nach dem Referendum, als Protest gegen eine zunehmende Machtfülle der Brüsseler Bürokratie bezeichnet. „Die Konzentration der Macht ist in den leitenden Strukturen der EU sehr hoch“, so der russische Präsident. Manchen Menschen gefalle dieses „Verwischen von Ländergrenzen“, anderen wiederum nicht. „Der überwiegenden Mehrheit der Briten, scheint es, gefällt es nicht“, so Putin. In der Entscheidung spiegle sich auch die Unzufriedenheit vieler Briten mit der Zuwanderung sowie in Sicherheitsfragen wider.
Merkel will Neuaufstellung der EU
Die EU muss sich wegen des angekündigten Austritts Großbritanniens nach Worten der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel grundlegend neu aufstellen. Die Union werde eine „neue Balance“ finden müssen, weil ein Land mit immerhin 15 Prozent der EU-Wirtschaftskraft austrete, sagte Merkel am Mittwoch nach einem Treffen mit dem estnischen Ministerpräsidenten Taavi Roivas in Tallinn.
Merkel pochte darauf, dass sich die EU auf die Zeit ohne Großbritannien sehr sorgfältig vorbereiten müsse. Sie sprach sich zudem gegen zu starken Druck auf die britische Regierung aus. Man solle dieser bei der Entscheidung über den Zeitpunkt des Austrittsantrags aus der EU Zeit lassen, forderte sie. „Ich glaube, wir haben auch genug zu tun unter uns 27, uns mit den Zukunftsfragen zu beschäftigen, sodass wir auch die Zeit jetzt abwarten können, die Großbritannien sich nehmen will.“

Reuters/Remo Casilli
Hollande, Renzi und Merkel trafen Anfang der Woche in Italien zusammen
Am Montag hatte sich Merkel bereits mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande und dem italienischen Ministerpräsident Matteo Renzi in Italien beraten. Bei den Gesprächen soll das Treffen der 27 EU-Regierungschefs in Bratislava Mitte September vorbereitet werden, auf dem diese sowohl den Umgang mit Großbritannien als auch das weitere Vorgehen in der EU klären wollen. Merkel dämpfte die Erwartung an das Treffen, das kein „Entscheidungsgipfel“ sein werde.
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