80.000 neue öffentliche Gebäude unsicher
Nach dem verheerenden Erdbeben in Mittelitalien haben Experten scharfe Kritik an der Qualität der Bausubstanz in Gebieten mit erhöhtem Erdbebenrisiko geübt. In Italien gebe es keine Kultur der Prävention, beklagte der nationale Verband der italienischen Geologen. Italien müsse sich an Kalifornien und Japan ein Beispiel nehmen, die ebenfalls mit dem Problem wiederholter Erdbeben leben müssen.
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Die Experten verweisen auf die großen Investitionen in die Sicherheit von Gebäuden in anderen bebengefährdeten Gebieten. Fast 26 Millionen Menschen leben in Italien in Gebieten mit erhöhtem Erdbebenrisiko, das sind 45 Prozent der Bevölkerung, unterstrichen italienische Medien nach dem jüngsten Beben. Sieben Millionen Gebäude sind gefährdet, sollte es zu einem stärkeren Erdstoß kommen. Dabei geht es keineswegs nur um historische Gebäude.
Auch Straßen und Brücken wieder ein Problem
Beim nunmehrigen Beben, aber etwa auch schon 2009 in L’Aquila wurden Städte mit zum Teil an die tausend Jahre alter Bausubstanz getroffen, an deren Beschaffenheit neue Bauvorschriften naturgemäß nur schwer etwas ändern können. Die Absicherung alter - und dazu oft auch noch geschützter - Gebäude etwa durch die nachträgliche Absicherung der Fundamente ist zwar machbar, aber extrem kostenintensiv.
Der Vulkanologe und Erdbebenexperte Enzo Boschi führte nun etwa an, dass auch 80.000 neu errichtete öffentliche Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser nicht nach modernen Sicherheitsstandards errichtet wurden. Darüber hinaus geht es vor allem um Straßen und Brücken, wie auch das nunmehrige Beispiel zeigt: Gerade in den entlegenen bergigen Siedlungen war die Hilfeleistung angesichts eingestürzter Brücken und unterbrochener Straßen weiterhin nur schwer möglich.
Verweis auf Norcia als funktionierendes Beispiel
Auch wenn es keine hundertprozentige Bebensicherheit geben könne, so kenne die Wissenschaft doch Mittel und Wege, die Situation wesentlich zu verbessern, betonten die Experten. Das Wissen sei vorhanden, woran es fehle, sei die Umsetzung. Boschi kritisierte, dass in Italien nur nach schweren Erdbeben nach erdbebensicheren Standards gebaut werde. Er brachte das Beispiel der umbrischen Stadt Norcia.
In Norcia waren bei einem Erdbeben 1979 fünf Menschen ums Leben gekommen worden. Danach wurden Häuser nach modernsten Sicherheitsstandards neu aufgebaut. Die umbrische Kleinstadt hat nun bei dem Beben kaum Schäden erlitten, obwohl das Epizentrum des Bebens viel näher an Norcia lag als an den viel stärker betroffenen Gemeinden Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto und Pescara del Tronto.
Alles Alte außer Baudenkmälern abreißen?
Die Experten regten an, die Erdbebensicherheit italienischer Bauten mittels eines Mehrstufenplanes zu verbessern, bei dem nach einem Kosten-Nutzen-Schlüssel vorgegangen werden soll. Es gibt aber bereits weit radikalere Forderungen nach dem Abriss älterer Gebäude, wenn sie ohne historischen Wert sind. Auch Länder wie Chile und die Türkei seien diesen Schritt gegangen, sagte Alessandro Amato vom Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie (INGV) laut ANSA.
Antonio Piersanti vom INGV sagte, ein Erdbeben der Stärke 6,0 sei für den Gebirgszug Apennin ein durchaus typisches Ereignis. „Wegen des Zustands und der Verwundbarkeit von historischen Gebäuden hat ein Erdbeben wie das von Rieti eine derart katastrophale Wirkung.“ Zwar seien bei neuen Gebäuden Fortschritte gemacht worden, immerhin die Hälfte aller italienischen Schulen sei jedoch vor 1980 gebaut worden.
Staatsanwälte ermitteln
Die Staatsanwaltschaft in Rieti leitete wegen des nunmehrigen Bebens bereits Ermittlungen ein. Sie sollen unter anderem Klarheit bringen, wie es zum Einsturz gerade erst renovierter Gebäude kommen konnte, etwa der Schule in Amatrice und des Glockenturms in Accumoli. Wütende Bewohner erhoben Vorwürfe gegen die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung. Betondächer seien auf Steinmauern gebaut worden, die nicht in der Lage seien, das Gewicht zu halten.
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