„Außergewöhnliches Ereignis“
Mit einem Putsch haben sich Altkommunisten vor einem Vierteljahrhundert in Moskau vergeblich gegen den fortschreitenden Kollaps der Sowjetunion aufgebäumt. In den Wirren des Umsturzes nutzten die Baltenstaaten Estland und Lettland die Gunst der Stunde und sagten sich endgültig vom Sowjet-Staat los.
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Doch in die Freude über den 25. Jahrestag der wiedererlangten Unabhängigkeit mischt sich bei den Balten Sorge über mögliche neue Machtansprüche des Kremls.
Die beiden heutigen EU- und NATO-Mitglieder haben sich am 20. (Estland) und 21. August (Lettland) 1991 für eigenständig erklärt, nachdem sie schon 1990 einen Beschluss zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit gefasst hatten. Der dritte Baltenstaat Litauen hatte bereits am 11. März 1990 die Verfassung der Sowjetunion außer Kraft gesetzt und seine Unabhängigkeit proklamiert.
Unter Militärrecht gestellt
„Je mehr die Zeit vergeht, desto mehr sind wir uns bewusst, was für ein außergewöhnliches Ereignis das war“, meint der Este Heinz Valk, Gründungsmitglied der damaligen Unabhängigkeitsbewegung Volksfront. Nach fast 50 Jahren Zwangszugehörigkeit zur Sowjetunion habe Estland in einer aussichtslos erscheinenden Lage Freiheitswillen bewiesen.
Im Baltikum war die Lage damals explosiv. Der Umsturz in Moskau wurde auch in den drei Sowjet-Republiken von ewiggestrigen Hardlinern unterstützt. Der damalige sowjetische Befehlshaber für den baltischen Militärbezirk stellte die 1940 annektierten Länder unter Militärrecht - es galt der Ausnahmezustand.

APA/AP/Vladimir Semjonov
In Riga zeigen die Zeichen am 21. August 1991 lange Richtung Eskalation
Panzer auf den Straßen von Riga
In Lettland rollten Panzer in der Hauptstadt Riga ein. Sowjetische Truppen besetzten das Fernmeldeamt, die Rundfunk- und Fernsehanstalt und schnitten das Land fast vollständig von der Außenwelt ab. „Wir waren in einer komplizierten Situation. Es gab keine Möglichkeit, mit dem Ausland zu kommunizieren, auch nicht mit dem Volk“, sagt Dainis Ivans, der damalige Vorsitzende der lettischen Volksfront.
Es galt, bange Momente zu überstehen. Doch mit dem sich abzeichnenden Scheitern des Putsches in Moskau schlug die Stunde des Parlaments in Riga. Am 21. August erklärten die Abgeordneten des damaligen Obersten Sowjets die völlige Unabhängigkeit Lettlands, obwohl über dem Gebäude noch Helikopter kreisten und die Panzer erst später abziehen sollten.
Lettische Fahne gehisst
Vor dem verbarrikadierten Parlament wurden Handzettel mit dem Text der Entschließung an die Menschenmassen verteilt, die sich davor versammelt hatten. Ein Abgeordneter kletterte auf die Mauern aus Betonklötzen, die in engen Gassen der Altstadt hochgezogen wurden, und verlas laut die Unabhängigkeitserklärung.
Als die Rundfunkzentrale auf dem Domplatz nach dem Rückzug der Truppen ihren Sendebetrieb wieder aufnahm, wurde auf dem Balkon die lettische Fahne gehisst. Im Radio lief feierlich die zu Sowjet-Zeiten verbotene lettische Nationalhymne.
„Das war äußerst emotional“, erinnert sich Anatolijs Gorbunovs, der die damalige Parlamentssitzung leitete. Trotz der angespannten Lage habe man während des Putschversuchs „Nervosität, aber keine Panik“ verspürt, sagt der Politiker. Wegen seiner besonnenen Art galt er in der Zeit des Umbruchs in Lettland als Stabilitätsfaktor.
Gewaltloser Widerstand
Ähnliche Szenen spielten sich auch in der estnischen Hauptstadt Tallinn ab. Dort versuchten sowjetische Truppen am 20. August, die Kontrolle über den Rundfunk und andere öffentliche Gebäude zu erlangen. Doch der gewaltlose Widerstand Zehntausender Esten verhinderte ein Blutbad - unbewaffnet stellten sich die Bürger dem Militär entgegen.
Auf einer Kundgebung appellierten Vertreter der estnischen Volksfront an die Bevölkerung, sich gegen den Totalitarismus und für die Freiheit und Demokratie zu entscheiden. Der Sieg der russischen Demokraten in Moskau sei auch ein Sieg für Estland, betonten sie. Wenige Stunden später verabschiedete das Parlament die Unabhängigkeitserklärung.
Seit 2004 in EU und NATO
Anders als noch im Frühjahr 1991 eskalierte die Lage im Baltikum nicht. Am 24. August erkannte die von Boris Jelzin regierte Russische Föderation die Unabhängigkeit der drei Staaten an. Danach folgten die ersten westlichen Länder. Nur wenige Monate später war die Sowjetunion zerfallen - und die Baltenstaaten waren endgültig frei. Seit 2004 sind sie Teil der EU und der NATO und zahlen inzwischen allesamt mit dem Euro. „1991 war das noch unvorstellbar“, betont Valk.
Biden in Riga, Merkel in Tallinn
Dennoch blicken am 25. Unabhängigkeitstag viele Esten und Letten wieder sorgenvoll in Richtung Moskau. Angesichts der gemeinsamen Grenze mit Russland und der starken russischen Minderheit im eigenen Land weckte das Vorgehen des Kremls bei der Ukraine-Krise die Furcht vor einem Rückfall in Sowjet-Zeiten. Die NATO erhöhte deshalb ihre Präsenz in den baltischen Staaten.
Für ihre Sicherheitsanliegen können die Regierungen in Tallinn und Riga bald auf großer Bühne werben. Gleich nach den Feiern zum 25. Unabhängigkeitstag kommt US-Vizepräsident Joe Biden am Dienstag nach Lettland. Tags darauf wird Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel einem Medienbericht zufolge in Estland erwartet.
Alexander Welscher/dpa
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