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Störfaktor Mensch

„Der Wert des Menschen“ ist die Chronik eines angekündigten Ausrastens, das niemals stattfindet. Hervorragend spielt Vincent Lindon einen 51-jährigen Maschinisten auf Arbeitssuche. Stephane Brize inszeniert die Stationen einer fortlaufenden Erniedrigung, wie sie ein kapitalistisches System von seinen Mitspielern verlangt, präzis und unsentimental.

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Eine Wohnzimmerszene ohne Wohlfühlfaktor: Der 51-jährige Thierry Taugourdeau (Lindon) sitzt vor einem Bücherregal an einem Esstisch und spricht in einen Laptop. Ein Skype-Interview mit einem potenziellen Arbeitgeber. Man hört nur die leicht arrogante Stimme des anderen, während man Thierry beim Sprechen beobachten muss. Wie er bei jedem Satz nickt und dabei knickt. Die Gestaltung seines Lebenslaufs lasse arg zu wünschen übrig, wird er über Skype gerügt. Qualifiziert sei er zwar, aber man werde sehen, was man tun könne. Er werde benachrichtigt.

Nach jahrzehntelanger Tätigkeit als Maschinist wurde Thierry „aussortiert“ und ist nun arbeitslos. Noch ist er nicht „ganz unten“. Er fährt einen Renault, der nicht mehr neu ist, aber noch gut in Schuss. Er trägt keinen Fünftagebart, er achtet auf sein Äußeres. Wenn er keine Arbeit hat, putzt er die Wohnung. Doch nach mittlerweile 20 Monaten ist sie unputzbar sauber.

Sterbeversicherung statt Kredit

In eine neue Umschulung soll er, heißt es bei Thierrys nächstem Termin am Arbeitsamt. Was das bringe, fragt Thierry. Jeder außer den Teilnehmern selbst verdiene daran, aber einen Job bekomme er dadurch nicht. Berechtigte Fragen wie diese werden im mechanischen Gesicht des Betreuers zu rhetorischem Umgebungslärm, den der gut ausblenden kann. Die nächste Nummer, die er aufrufen soll, wird schon an der Tür angezeigt. Das Verwalten von Arbeitslosigkeit ist ebenfalls ein profitabler Wirtschaftszweig.

Szene aus dem Film "Der Wert des Menschen" mit Vincent Lindon

Filmladen Filmverleih

Aufgeben kommt für Thierry (Lindon) nicht infrage

In seiner Situation kann Thierry nicht handeln, über ihn wird verhandelt. Wo auch immer er ist, herrscht asymmetrische Kommunikation: Seine Fragen verhallen, während er jede Frage beantworten soll. Er soll immer freundlich sein, auch wenn er fortlaufend auf Ablehnung stößt. Und es reicht nicht, dass er sich so demütigen lässt und dass er sich so klein machen lässt. Wer arbeitslos ist, muss sich auch selbst demütigen.

Thierry ist sichtlich depressiv, trotzdem kommt Aufgeben nicht infrage, schon alleine wegen seines behinderten Sohnes und wegen seiner Frau. Als er bei seiner Bankberaterin um einen Kredit ansucht, schlägt sie ihm dennoch lieber eine Sterbeversicherung vor. Falls ihm „etwas zustößt“.

Was ist ein Mensch wert?

„La loi du marche“, „Das Gesetz des Marktes“, wie der Film im Original heißt, kommt im englischsprachigen Raum unter dem Titel „The Measure of a Man“ und im deutschsprachigen als „Der Wert des Menschen“ in die Kinos. Ein seltener Übersetzungsglücksfall, dass alle drei Titel jeweils eine andere Facette der Geschichte betonen.

Wie definiert man den Wert des Menschen? Wo beginnt seine Würde und wo endet sie? Wer das fragt, stellt fest, dass es keine scharfen Grenzen dafür gibt, und in der Logik der kapitalistischen Ökonomie verschwimmen sie noch mehr. Als Humankapital oder als Kostenfaktor oder als Belastung für das Sozialbudget – der Mensch ist das wert, was der Markt ihm zumisst.

Brize weiß, wie schnell man mit derlei kritischen Ansätzen ins linke Kampfklischee gedrängt würde und eventuell nur begrenzt Gehör fände. Er nimmt mit seinem Film also erst gar keine antikapitalistische Haltung ein. Er klagt nicht an, er ruft nicht zum Widerstand auf.

Resignierter Rebell

Schon in der dritten Szene trifft sich Thierry mit Gewerkschaftern in einem Cafe. Mit 750 Leuten wollen die Kollegen die Zentrale der Firma blockieren, die ihr Werk geschlossen hat. Doch Thierry entscheidet sich, nicht mitzumachen. Ein resignierter Rebell, den Brize zeigt.

Brize hat im Cinemascope-Format gedreht, gemacht für starke Helden, große Schlachten, riesige Schiffe auf weiten Ozeanen. Hier allerdings strauchelt ein einzelner Mann im profanen Alltag. Gemeint sind dennoch viele, gemeint ist trotzdem eine Schlacht. Umso deutlicher wirkt Thierrys Bewegungsfreiheit eng abgesteckt, auch visuell: Wenige Zentimeter nur weicht Eric Dumonts Kamera zum Beispiel aus Thierrys Gesicht, wenn man später im Film dabei Zeuge wird, wie sein Skype-Interview in der Supervisionsgruppe besprochen wird.

Eine Szene, die einer Anklage gleichkommt, denn obwohl sie selbst arbeitslos sind, gehen seine „Kollegen“ unter der Anleitung des Supervisors hart mit Thierry ins Gericht: Haltung zu schlaff. Unfreundliche Ausstrahlung. Nicht deutlich genug gesprochen. Thierry nickt wieder, lässt es über sich ergehen. Die Röte schießt ihm ins Gesicht, und er gelobt Besserung. Linderung erwartet er keine.

Scham als Produkt des Systems

Es gibt kein Entkommen aus dieser Szene, und für Thierry gibt es kein Entkommen aus dieser Scham. Die Scham als Produkt des Systems, als Strafe, die der Markt verhängt. Die meisten Rollen, auch die von Thierrys Frau (Karine De Mirbeck) und seinem Sohn (Matthieu Schaller), hat Brize mit Laien besetzt, die das, was sie darstellen, auch im Leben sind: Der Arbeitsamtsangestellte arbeitet tatsächlich im Arbeitsamt, der Supermarktleiter ist ein Supermarktleiter, die Kassierin ist auch echt.

Vincent Lindon dagegen, Star des französischen Kinos, ein Meister der Lakonie und der melancholischen Schwermut, wurde für diese Rolle bei den Filmfestspielen von Cannes 2015 als bester Darsteller gewürdigt. Er spielt Thierry mit feinfühliger Informiertheit und mit zurückgenommener Wut. Er lässt genug Raum für den Stolz, den Thierry haben könnte, den er haben sollte – und für die Solidarität, die er niemals einfordert, die es aber geben müsste.

Kühle Präzision

Nur einmal lässt Brize seinen Protagonisten laut werden: als Thierry sein Ferienhäuschen am Meer verkaufen will, weil das Geld vom Amt nicht reicht. Die Interessenten versuchen, den niedrigen Preis für das, was er sich ein Leben lang aufgebaut hat, noch einmal um 1.000 Euro zu drücken. „Ich bin nicht als Bettler hier“, stampft er da auf, trotzdem wird es kein Ausrasten geben. Viel zu unsicher ist Thierry sich an dieser Stelle längst darüber, was er selbst eigentlich wert ist.

Brize blickt auf Thierry so, wie die Umgebung auf ihn schaut. Meist frontal, in Halbtotalen und in wenigen Großaufnahmen. Man bewegt sich mit Thierry fast nur in geschlossenen Räumen, und selbst im Tanzkurs, den er mit seiner Frau in liebgewonnener Regelmäßigkeit besucht, geht es immer einen Schritt vor, zwei zurück, unter permanenter Belehrung.

Vorsprechen und Bittstellen

Streng genommen – so meint es auch der Film – unterscheidet sich Arbeitslosigkeit auch nicht von gewissen Arbeitsverhältnissen: Längst ist der Mensch in der Logik des Marktes zum fremdbestimmten Objekt geworden. Über seinen Wert und über seine Würde verfügen jene, die über das Kapital verfügen.

Szene aus dem Film "Der Wert des Menschen" mit Vincent Lindon

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Thierry in seinem neuen Job als Kaufhausdetektiv

Als Thierry viel später eine Stelle als Sicherheitsmann in einem Supermarkt annehmen kann, ist das ein kleiner, bitterer Sieg. Nun blickt die Kamera erstmals über Thierrys Schulter und schaut mit ihm anstatt bloß auf ihn. Das ist der vermeintlichen Macht geschuldet, die der Mann im schlecht sitzenden Anzug nun hat. Viel Thierry steckt darin nicht mehr. Über Bildschirme soll er Diebstähle im Kaufhaus aufdecken. Er soll aber auch seine eigenen Kollegen überwachen, denn, so sagt man ihm gleich am ersten Tag: Jeder sei ein potenzieller Dieb.

Überwachen, strafen, verraten

Zweimal wird man mit Thierry Zeuge eines Verhörs: Jeweils eine Kassierin steht dann in einem kargen Raum von Thierry und dessen Chef ins Eck gedrängt, wie ein verletztes Tier. Die eine, weil sie die eigene Treuepunktekarte mit den Einkäufen fremder Kunden aufgepäppelt hat, die andere hortete Gutscheinbons. In beiden Frauen kann Thierry sich selbst erkennen.

Er kann den Zusammenhang von Kapital und Würde sehen. Er sieht auch die Erosion, die sie allesamt hierhin in diesen Raum gespült hat. Er weiß, dass der Mensch hier als Störfaktor per se gilt, einfach weil er menschlich ist – und damit unberechenbar.

Überwachen, strafen und verraten – wenn es sein muss, auch sich selbst –, diese Säulen eines kapitalistischen Systems will Thierry nicht stützen. Doch unter den Verlierern gibt es keine Solidarität mehr. Wohin mit seinen Werten, wenn man daran nur zerbricht? Fast scheint es am Ende, als könnte auch Thierry diese Frage nicht mehr beantworten. Glücklicherweise nur fast.

Alexandra Zawia, ORF.at

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