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Verlängerung des Ausnahmezustands?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan treibt den Umbau der Streitkräfte nach dem gescheiterten Militärputsch weiter voran. Zukünftig sollen alle Kommandanten des Militärs an den Verteidigungsminister berichten. Ziel des Umbaus ist, die Armee vollständig unter zivile Kontrolle zu bringen.

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Erdogan sagte am Samstag dem TV-Sender A Haber, er werde dem Parlament ein „kleines Paket“ mit Verfassungsänderungen vorschlagen. Sollte es verabschiedet werden, würden damit der Nationale Nachrichtendienst MIT sowie der Generalstabschef und damit alle militärischen Stabschefs unter die Kontrolle des Präsidenten gestellt werden. Zudem könnte der nach dem Umsturzversuch verkündete dreimonatige Ausnahmezustand verlängert werden, verkündete Erdogan weiter.

1.389 Entlassungen per Notstandsdekret

Am Samstag wurde zudem die unehrenhafte Entlassung von 1.389 Soldaten per Notstandsdekret bekannt. Darunter sei ein ehemaliger Berater Erdogans, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Samstag unter Berufung auf das im Amtsblatt veröffentlichte Dekret.

Mit dem Dekret werden auch alle Militärakademien und -gymnasien des Landes geschlossen. Dafür werde eine Universität für Nationale Verteidigung aufgebaut, die dem Verteidigungsministerium unterstellt ist. Die Landstreitkräfte, die Luftwaffe und die Marine werde mit dem Beschluss ebenfalls dem Verteidigungsministerium unterstellt. Das Militär würde mit all den Änderungen stärker, argumentierte Erdogan. Der türkische Präsident hatte den Umbau vor rund einer Woche angekündigt. Teile des Militärs hatten vor zwei Wochen einen Putschversuch gestartet, der aber scheiterte.

Starke Rolle in der Türkei

Die türkische Armee hat seit den Zeiten von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk eine herausragende Rolle, gegen deren Willen sich kaum eine Zivilregierung längerfristig halten konnte. Zudem verstand sie sich als Garant für die Trennung von Staat und Religion und geriet damit bereits früher in Konflikt mit dem konservativ-islamisch geprägten Erdogan.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Soldaten

APA/AFP/Kayhan Ozer

Erdogan mit Streitkräften

Erdogan macht für den Putschversuch den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen als Drahtzieher verantwortlich. Dieser weist das zurück. In dem Interview am Samstag sagte Erdogan weiter, hinter Gülen stehe noch ein „Mastermind“. Anhänger von Gülen hätte die Regierungspartei AKP infiltriert, es sei aber eine kleine Zahl von Leuten gewesen, die mittlerweile entfernt worden wären.

Klagen wegen Beleidigung werden zurückgezogen

Am Samstag haben die türkischen Behörden staatlichen Angaben zufolge 758 Soldaten freigelassen, die nach dem gescheiterten Putschversuch festgenommen worden waren. Das sei auf Empfehlung der Staatsanwaltschaft vom Freitag geschehen, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu. Ein Richter habe zugestimmt und die Festnahmen als unnötig bezeichnet, hieß es. Zuvor waren bereits 3.500 Personen wieder freigekommen.

Erdogan kündigte am Freitag auch an, alle Klagen wegen Beleidigung zurückzunehmen und sprach dabei von einer einmaligen Geste. Hintergrund sei das Gefühl, dass die Gesellschaft nach dem gescheiterten Putsch zusammenstehe. Erdogan sagte in dem Interview, dass seine Anwälte bereits an der Arbeit seien. Derzeit laufen mehr als 2.000 Klagen wegen Beleidigung Erdogans.

Erdogan weist Kritik erneut zurück

Der türkische Präsident wies bei der Ankündigung am Freitag neuerlich Kritik des Westens an Repressalien der türkischen Behörden nach dem gescheiterten Militärputsch scharf zurück. „Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten“, sagte er. Er beklagte, dass kein einziger ranghoher westlicher Politiker seit dem Putsch vor zwei Wochen die Türkei besucht habe, um sein Mitgefühl auszudrücken. „Diese Länder und Staatsführer, die sich nicht um die türkische Demokratie, das Leben unserer Bevölkerung und deren Zukunft sorgen, während sie so besorgt über das Schicksal der Putschisten sind, können nicht unsere Freunde sein“, so Erdogan weiter.

Über 18.000 Verhaftungen seit Putsch

Seit dem Putschversuch Mitte Juli gehen die türkischen Behörden massiv gegen mutmaßliche Unterstützer der Umstürzler vor. Fast 1.700 Militärangehörige wurden unehrenhaft entlassen. Insgesamt wurden nach einem Anadolu-Bericht vom Freitag bisher mehr als 66.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ihrer Posten enthoben, darunter etwa 43.000 aus dem Bildungssektor. Am Samstag wurden weitere 64 Mitarbeiter des Verfassungsgerichts der Türkei vorläufig vom Dienst suspendiert, erklärten die türkischen Behörden. Zuvor waren bereits acht Personen entlassen und festgenommen worden.

Mehr als 18.000 Menschen wurden zudem laut Innenministerium im Zusammenhang mit dem Putschversuch in Gewahrsam genommen, 50.000 Pässe für ungültig erklärt. Die Rufe nach der Todesstrafe für „Verräter“ werden in der Türkei indes immer lauter.

Inzwischen wurden auch elf Soldaten eines Kommandos festgenommen, die das Ferienhotel Erdogans in Marmaris angegriffen haben sollen. Die Streitkräfte hatten Drohnen und Hubschrauber bei der Suche nach den Flüchtigen eingesetzt. Während des Einsatzes sollen auch Schüsse gefallen sein. Dorfbewohner hätten über den Aufenthaltsort der Putschverdächtigen informiert, so die Armee.

Verschlüsselte Nachrichten abgefangen?

Nach Angaben eines türkischen Behördenvertreters gibt es schon länger eine Liste Verdächtiger. Die Behörden hätten seit Mai vergangenen Jahres verschlüsselte Nachrichten von Gülen-Anhängern abgefangen, die über die Handy-App ByLock versendet wurden. Darüber seien fast 40.000 Namen, darunter die von 600 Militärangehörigen, identifiziert worden. Eine „große Anzahl“ der auf diese Weise Identifizierten sei „direkt“ in den Putschversuch verwickelt gewesen, sagte der Behördenvertreter weiter.

Europarat-Chef besucht Ankara

Nach Kritik an der Menschenrechtslage reist der Generalsekretär des Europarates kommende Woche nach Ankara. Er werde dort am Mittwoch mit Erdogan, Außenminister Mevlüt Cavusoglu und anderen hochrangigen Regierungsvertretern zusammenkommen, sagte ein Sprecher des Europarats am Sonntag in Straßburg.

Thorbjorn Jagland wolle sich aus erster Hand über die Situation in der Türkei informieren. Die Forderung nach einer Beobachtermission des Europarats war angesichts der Situation laut geworden. Der Menschenrechtsbeauftragte der Staatenorganisation, der die Türkei seit 1950 angehört, äußerte große Bedenken wegen des ersten Notstandsdekrets der türkischen Regierung.

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