„Plattform lebt von Authentizität“
Neben täglich wechselnden Fotofiltern machen das Erlebnis des „Live-dabei-Seins“ und die kurzlebigen Bilder den Reiz der App Snapchat aus - nicht nur für Jugendliche. Eine neu eingeführte Funktion lockert diese Flüchtigkeit nun, nicht zuletzt, um mehr ältere User zu gewinnen. Sorge besteht aber, dass die App damit gewöhnlicher und im Einheitsbrei der Sozialen Netzwerke versinken wird.
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Laut dem „Wall Street Journal“ sind 38 Prozent der Snapchat-Nutzer zwischen 25 und 34 Jahren und mittlerweile 14 Prozent 35 Jahre und älter. Snapchat entwickelte sich rasant zur stärksten App der USA und wird heute nicht bloß von Teenagern verehrt. Der größte Anteil der Nutzer ist trotzdem immer noch zwischen 18 und 24 Jahre alt und macht 69 Prozent der gesamten Community aus.
Ein Grund, warum Snapchat bisher von einer älteren Generation so weit entfernt war, ist seine Kurzlebigkeit. Für Personen, die sich an das Ansammeln von Inhalten - besonders von Fotos - in physischen Fotoalben, aber auch auf Facebook und mittlerweile auch auf Instagram gewöhnt haben, ist der Sinn hinter dem unmittelbaren Verschwinden der verschickten Bilder nicht sofort greifbar.
Bildersprache als neues Kommunikationsmittel
Zusätzlich hat sich die Art, wie Menschen miteinander kommunizieren, grundlegend verändert. Entsprechend der Altersgruppe liegen große Unterschiede bei der digitalen Verständigung.

Alex Cristurean
Ana-Maria Birsan coacht Unternehmen zu Snapchat
Bevorzugte die Generation Y mit dem Aufkommen des Handys vor allem die Interaktion über Kurznachrichten, tauscht sich die darauf folgende – also die Generation Z – vorwiegend auf visueller Ebene aus. Ana-Maria Birsan, Geschäftsführerin der Kommunikationsagentur Lieblingswort in Wien, ist überzeugt, dass die meiste Kommunikation junger Nutzer über Bilder und Videos funktioniert.
„Vermehrt wird bei jüngeren Usern auf Video gesetzt. Deshalb hat auch Snapchat einen Vorteil gegenüber anderen Plattformen“, erläutert Birsan gegenüber ORF.at. Diese Entwicklung sei jedoch eine rein intuitive. Schreiben gehe mittlerweile auch schnell, aber mit Bildern, Emojis etc. ließen sich die Dinge ganz einfach erklären. Es biete mehr Spielraum und sei attraktiver, weniger steif. So könne man damit auch manchen unangenehmen Situationen schnell ausweichen oder sie dämpfen.
Erinnerungen drücken Echtheitsfaktor
Die kürzlich eingeführten „Memories“ sollen die Vergänglichkeit der Fotos etwas relativieren, der Bezug zur App soll damit auch einem älteren Publikum erleichtert werden. Befürchtungen sind groß, dass die „Memories“ der App genau das nehmen, was sie ausmacht: die Flüchtigkeit des Augenblicks und seine Authentizität. „Nach wie vor sind Livemomente sympathischer und besser in der Community angesehen“, sagt Birsan.

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Jeder „Snap“ kann mit allerlei bunten Stickern und Emojis verziert werden
Bisher konnten nur Bilder, also „Snaps“, verschickt werden, die „live“ aufgenommen wurden. Diese Momentaufnahmen können für maximal zehn Sekunden vom Empfänger betrachtet werden, bis sie sich im Nirgendwo auflösen. Wer seine „Snaps“ in seine „Story“ (Ansammlung von Fotos und Videos) postet, stellt sie seinen Snapchat-Freunden für 24 Stunden zum Anschauen bereit. Bildschirmfotos sind möglich, der Absender erhält jedoch eine Benachrichtigung, die das Foto als „gescreenshotet“ kennzeichnet.
„Memories“ zweischneidiges Schwert
Durch die „Memories“ kann der Nutzer nun auf ältere Snaps bzw. sein Fotoalbum auf dem Handy zugreifen und sie als „alte“ Geschichten posten, das ähnelt damit Instagram oder Facebook. Die „My Eyes Only“-Option (deutsch: „Nur für meine Augen“) kann die Privatsphäre der damit gekennzeichneten Fotos einschränken. Welche Folgen die Erinnerungsfunktion für ein Unternehmen oder für Privatpersonen haben könne, sei immer eine Sache der Umsetzung, so Birsan. Laut der Expertin sind die „Memories“ ein zweischneidiges Schwert: „Sie können sich damit die Community zerstören oder aufbauen.“
Warten auf die „Regenbogenkotze“
Der private Nutzer jedoch kann seinen Ideen freien Lauf lassen. Verblüffend dabei ist, wie die kindlichen Sticker und teilweise unschmeichelhaften Filter auch ältere Personen anlocken. Sich Hundeohren, Pandagesichter und Schweinchennasen „aufzumalen“ und diese Fotos mit anderen zu teilen, scheint immer weniger zu irritieren. Für die Social-Media-Expertin ist die Sachlage eindeutig: „Es ist endlich mal etwas anderes. Da sich die Kommunikation auf Bilder und Videos ,limitiert’, macht es die App sympathisch. Die Filter setzen die Kirsche noch auf das Törtchen drauf.“

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Der „Regenbogenkotze“-Filter erfreut sich großer Beliebtheit
Hierzulande hat Snapchat etwas länger gebraucht, um sich zu etablieren und hat erst durch einen farbenfrohen Trigger Interesse geweckt: „In Österreich wurde die App ja nur ab dem Zeitpunkt bekannt, ab dem die Fotos mit der Regenbogenkotze (ein Snapchat-Filter, Anm.) aufgetaucht sind. Bis dahin wurde die Plattform ja sehr belächelt und als ,Unsinn’ bezeichnet. Anscheinend hat die österreichische Gesellschaft auf eben solche Regenbogenkotze gewartet“, meint Birsan.
Snapchat nur mit richtigem Know-how wirksam
Die Sympathie von Snapchat wollen sich auch Schweizer Politiker zunutze machen, wie Cedric Wermuth und Beat Flach. Laut dem Schweizer Portal „20 Minuten“ planten sie, über die App Wähler für sich zu gewinnen und jungen Menschen Politik zu vermitteln. Wermuth begründete seine Entscheidung damit, dass er glaube, Facebook sei bei jungen Menschen „out“. Jedoch bereits bei der Installation gab es ein paar Anlaufschwierigkeiten.
In Österreich läuft es besser. Außenminister Sebastian Kurz scheint Snapchat zu verstehen und dokumentiert auf ansprechende Weise seinen Arbeitsalltag. Ebenso aktiv sind der Grünen-Abgeordnete Peter Kraus und Nationalratspräsident Karlheinz Kopf, deren „Snaps“ allerdings auch Privates zeigen. Der Snapchat-Account des Europäischen Parlaments verzeichnete Anfang dieses Jahres bereits 6.000 Follower.
„Nicht der Jugendkultur nacheifern“
Social-Media-Fachleute würden an diesem Trend zweifeln, heißt es dazu auf „20 Minuten“. Kinder- und Jugendpsychologe Philipp Ramming äußerte sich dort kritisch zu diesem Thema, denn Snapchat sei für Jugendliche eine private und intime App.
„20 Minuten“ befragte auch den Social-Media-Experte Philipp Wampfler, der davon abrät, „der Jugendkultur nachzueifern“, da sich Politiker schnell lächerlich machen könnten. Denn digitale Kommunikation habe einen hohen Stellenwert unter Jugendlichen, der sich durch das „Abheben von Erwachsenen“ definiert, behauptet Wampfler weiter.
Privatheit entscheidend
Birsan glaube allerdings, dass die Präsenz der älteren Generation nicht ausschlaggebend für die Nutzung sei. Da jeder noch bestimmen kann, wer seine Snaps sehen darf und wer nicht, sei den Kindern prinzipiell egal, ob die Eltern sich dort peinlich machen. Denn man sei (noch) „Herr seiner Blase“, und das sei genau das, was Snapchat für die Nutzer attraktiv macht.

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Das Snapchat-Logo ist ein weißer Geist auf knallgelben Hintergrund
Das Alter scheint also grundsätzlich keine Rolle bei der Verwendung dieses Messenger-Dienstes zu sein. Die Oma auf Facebook veranlasste Jugendliche, sich von dem Sozialen Netzwerk zu verabschieden, bei Snapchat stehen andere Aspekte im Vordergrund. Denn allein die Handhabung ist entscheidend für den „Erfolg“ – und das besonders bei Unternehmen oder Personen des öffentlichen Lebens.
Für Unternehmen von Vorteil
Denn „für die kommende Zielgruppe reicht die Kombination Facebook und Instagram nicht mehr aus“, lautet Birsans Prognose. Das steckt womöglich auch hinter der Idee der „Memories“, die einem Unternehmen nun erlauben, bereits vorhandene Fotos zu posten und diese durchdacht vorzubereiten.
Die Werbung ist auf Snapchat immer noch dezent, und so gibt es bisher keine Banner oder Pop-ups innerhalb eigener Storys - es tauchen lediglich gesponserte „Snaps“ im Stream der Nutzer auf, die leicht ignoriert werden können. Immer verbreiteter jedoch sind die „Sponsored Lenses“, also von Unternehmen designte Filter mit Logo, die vom Snapchatter ins Selfie oder Video integriert werden können.
„Blase“ schützt vor „Eindringlingen“
Trotzdem bleibt auch bei den Erinnerungen der Aspekt des Verschwindens erhalten, denn diese sind auch wieder nur 24 Stunden sichtbar. Da diese Funktion noch sehr jung ist, wird sich erst zeigen, ob und in welcher Hinsicht sich das Verhalten der Nutzer verändert.
Die Einzigartigkeit von Snapchat liege außerdem noch woanders. „Hier spielt viel mehr eine Rolle als nur die Limitierung auf 24 Stunden oder zehn Sekunden. Die Plattform lebt von Authentizität, nicht von Zeit“, bringt es Birsan auf den Punkt. Solange der Content echt bleibt und die eigene „Blase“ aufrechterhalten werden kann, könnten weder Politiker, noch Firmen oder die Großmutter Jugendliche auf Snapchat abschrecken.
Yasmin Szaraniec, ORF.at
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