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„In Sweden we have a system“

Allen voran durch Werbung sind traditionelle schwedische Anlässe wie das Mittsommerfest auch im Ausland bekannt geworden. Dargestellt werden ausgelassene Feierlichkeiten - Tracht und Tanz spielen eine große Rolle. Weil diese Traditionen stets in Gesellschaft ausgelebt werden, entsteht schnell der Eindruck, dass sich Schweden stark an der Idee des Kollektivs orientieren.

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Entsprechend verhält es sich auch mit anderen schwedischen Traditionen: etwa wenn zu Valborg scheinbar alle Schweden und Schwedinnen den Frühlingsbeginn feiern. Mittsommer, der Nationalfeiertag und der heuer besonders groß gefeierte Victoriadagen - am 14. Juli wurde der 40. Geburtstag von Kronprinzessin Victoria gefeiert - sind weitere Beispiele für ein scheinbar breites, positives Bewusstsein für die eigenen Traditionen.

Umfassende Einigkeit

Gleichzeitig wird Schweden und Schwedinnen nachgesagt, gefühlskalt distanziert und einzelgängerisch zu sein. Die Klischees – kollektives Feiern und mangelnde Nahbarkeit – scheinen nicht zusammenzupassen. Tatsächlich gibt es einen Satz, mit dem die schwedische Selbstsicht auf den Punkt gebracht wird. Der Ausspruch lautet „In Sweden we have a system“ und wird in Gesprächen mit Nicht-Schweden besonders gerne verwendet.

Ausgedrückt werden soll damit der starke Glaube daran, dass Schweden für alle Herausforderungen über ein geeignetes Vorgehen verfügt - bei gleichzeitiger Unterstellung, dass es überall anderswo weit weniger geordnet zugeht. Es ist ein recht umfassend ausverhandeltes System, das trotzdem komfortabel ist, weil über Etabliertes mehr oder minder Einigkeit besteht.

Schwedische Kinder in Tracht mit einem Blumen-Herz

Reuters/Bob Strong

Kollektive Folklore beim Mittsommerfest - ein Anlass, der hauptsächlich auf dem Land gefeiert wird

„Gute, fromme“ Menschen

Um die schwedische Mentalität verstehen zu können, braucht es einen Rückgriff auf die Linie der schwedischen Staatskirche: Sie gab Individualismus und ein „gutes, frommes Handeln“ als Ideale vor. In dem im 19. Jahrhundert stark verarmten und vom Massenexodus gezeichneten Agrarstaat hatten die religiösen Inhalte einen sehr hohen Stellenwert, gleichzeitig schritt die Industrialisierung - spät aber doch - voran. Neue politische (Arbeiterinnen-)Bewegungen orientierten sich an den kirchlichen Wertevorgaben.

Familie als untergeordnete Struktur

In der Zwischenkriegszeit, anderswo vom Totalitarismus beherrscht, begann der Wohlfahrtsstaat eine Modernisierung der Lebensverhältnisse vorzugeben. Es wurde staatlich dafür gesorgt, dass alle Schwedinnen und Schweden ihre Lebensziele möglichst eigenständig und autonom umsetzen können - unabhängig von familiärer Unterstützung. Die Steuern waren hoch, allerdings auch die staatlichen Leistungen in allen Bereichen sehr umfassend.

Ziel war es, die soziale und ökonomische Unabhängigkeit der Einzelnen zu garantieren. Familiäre Abhängigkeiten waren verglichen mit anderen Ländern weit weniger bedeutsam. Der Einfluss des Staates war umfassend – Leistungen richteten sich aber nicht an die Familie, sondern an alle Mitglieder einzeln. Neben Haushaltsführung und Sexualerziehung waren etwa auch Vorgaben mit eingeschlossen, wie viel Kalorien man sich zuführen sollte, wie der Historiker Jonas Frykman von der Universität Lund erklärt. All diese Dinge seien plötzlich höchstes staatliches Interesse gewesen, so Frykman.

„Staat auf Einzelnen ausgerichtet“

Der Staat bekam mit dieser Ausrichtung ein enorm hohes Gewicht: Modernität, Individualismus und Gleichheit wurden zu tiefgehenden schwedischen Werten. Eine Ausrichtung, die heute eine wichtige Rolle spielt, wie der schwedische Historiker Lars Trägardh erklärt. In bedeutendem Maße sei die schwedische Selbstsicht davon geprägt, dass die kleinste Einheit nicht die Familie, sondern der bzw. die Einzelne sei. Und das mache die Schwedinnen und Schweden wiederum zu dem, was sie heute seien.

Entsprechend hat Trägardh - um den Kreis zu schließen - eine Erklärung für die Reserviertheit der Schweden und Schwedinnen parat: Sie sei eine Folgeerscheinung eines „tiefen Wunsches nach Unabhängigkeit“, meint der Historiker. Diese geistige Haltung - laut Trägardh missverstanden als Gefühlskälte - erschließt sich aber im Hinblick auf die Entwicklung des Landes bzw. des Wohlfahrtstaates. Und die „Allianz zwischen Individuum und Staat“ zeigt wiederum auf das, was Schweden und Schwedinnen an sich selbst so schätzen: ihr „System“.

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