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Maßnahmen gegen „Schurken-Netzwerk“

Die Zahl der Festnahmen seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei ist nach Angaben von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf mehr als 10.000 gestiegen. 10.410 Verdächtige seien bei den andauernden Razzien festgenommen worden, sagte Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in der Nacht auf Freitag im Präsidentenpalast in Ankara.

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Nach Angaben des Sprechers der Regierungspartei AKP, Yasin Aktay, handelt es sich bei den 10.410 Festgenommenen um 7.423 Soldaten, 287 Polizisten, 2.014 Richter und Staatsanwälte sowie 686 weitere Zivilisten. Unter den festgenommenen Soldaten sind 162 Generäle - fast die Hälfte aller Generäle der zweitgrößten NATO-Armee.

Türkische Polizisten führen nach Putschversuch Militärpersonal ab

APA/Depo Photos via AP

Im ganzen Land gibt es Festnahmen

Vizeministerpräsident Mehmet Simsek sprach von einem „Schurken-Netzwerk“. Seit Donnerstag gilt in der Türkei ein 90-tägiger Ausnahmezustand. Ziel ist es, staatliche Stellen von Unterstützern des Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht, zu „säubern“. Die Regierung vermutet, dass zahlreiche Behörden von ihnen unterwandert seien. Allen Staatsbediensteten wurde der Urlaub gestrichen. Diejenigen im Ausland wurden zur Rückkehr aufgefordert.

Ringen um Gülens Auslieferung

Die Türkei forderte von den USA Gülens Auslieferung. Diese könnte nach den Worten von Außenminister Mevlüt Cavusoglu kurzfristig schnell gehen - wenn man dazu entschlossen sei. „Wenn man es hingegen hinauszögern will, kann der Prozess Jahre dauern.“ Die USA verlangen von der Türkei zunächst eindeutige Beweise für eine Verwicklung Gülens in den Putschversuch. Gülen verurteilte den versuchten Staatsstreich und bestreitet jegliche Verwicklung darin.

Erdogan will Militär umbauen

Die Türkei ist im Ausnahmezustand, die Massenfestnahmen dauern an. Präsident Erdogan will nach dem gescheiterten Putsch nun das Militär umbauen.

In einem Interview zeigte sich Erdogan aber bemüht, das Verhältnis mit den USA nicht über Gebühr zu strapazieren. Er wolle den Streit über die Auslieferung Gülens nicht mit der US-Präsenz auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik vermengen, sagte Erdogan dem Sender al-Jazeera. „Das Verhältnis zwischen Staaten beruht auf Interessen, nicht auf Gefühlen“, sagte er. Incirlik, wo auch 50 US-Atomsprengköpfe lagern sollen, ist für den US-geführten Kampf gegen die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) von großer Bedeutung.

„Gedenktag für Märtyrer“ ausgerufen

Erdogan erklärte unterdessen den 15. Juli, an dem der Putschversuch begann, zum „Gedenktag für Märtyrer“ und sagte: „Kommende Generationen werden die Helden des Kampfes für die Demokratie nie vergessen.“ Das Volk solle sich weiterhin auf den Plätzen des Landes versammeln, „bis unser Land diese schwere Phase vollständig hinter sich gelassen hat“. Die Menschen müssten sich gegen den „hinterlistigsten und niederträchtigsten Putschversuch in der Geschichte des türkischen Volkes“ zur Wehr setzen, sagte Erdogan.

Tausende Menschen auf den Straßen

In der Nacht auf Freitag demonstrierten erneut Tausende Menschen auf einer der Bosporus-Brücke in Istanbul gegen den Umsturzversuch. Putschisten hatten die Brücke mit Panzern besetzt und auf Zivilisten das Feuer eröffnet. Die Demonstranten folgten damit dem Aufruf des Staatschefs, der „mein liebes Volk, gib nicht den heroischen Widerstand auf, den du für dein Land, deine Heimat und deine Fahne gezeigt hast“, in einer an sämtliche Handys des Landes versandten Kurzmitteilung geschrieben hatte.

Tausende Erdogan Unterstützer auf der Straße

APA/AFP/Yasin Akgul

Menschenmassen in Istanbul folgen dem Aufruf Erdogans

Zum Ausnahmezustand sagte Justizminister Bekir Bozdag, dieser sei nötig, um einen zweiten Staatsstreich zu verhindern. Simsek erklärte, für Maßnahmen gegen die Hintermänner des Putschversuches könne das Parlament umgangen werden. Wegen der vielen Festgenommenen könne es vorkommen, dass Leute länger in Haft blieben. Nach seinen Worten sind noch rund tausend Staatsbedienstete auf der Flucht.

„Reflexartige Reaktionen typisch“

AKP-Sprecher Aktay sagte, „dass wir die Kritik aus Europa zu diesem Thema nicht nachvollziehen können. In Frankreich und in Belgien gibt es zwei Fälle aus der jüngsten Vergangenheit, in denen jeweils nach Terrorangriffen zunächst für sechs Monate der Ausnahmezustand ausgerufen und danach um sechs Monate verlängert wurde.“

Erdogan Unterstützer auf der Straße

AP/Emrah Gurel

Nacht für Nacht wird gegen den niedergeschlagenen Putsch demonstriert

Erdogan verbat sich die Kritik aus dem Ausland: „Europa hat kein Recht, diese Entscheidung zu kritisieren.“ Auch Simsek versuchte, Bedenken zu zerstreuen: „Ich bin zuversichtlich, dass die Türkei aus dieser Krise mit einer viel stabileren Demokratie hervorgehen wird.“ Der Abgeordnete der oppositionellen CHP, Sezgin Tanrikulu, warnte jedoch, mit dem Ausnahmezustand werde der Weg für Übergriffe bereitet.

Die Massenfestnahmen und die Suspendierung führten international zu Rufen nach Verhältnismäßigkeit. Der Ausnahmezustand verunsicherte zudem die Wirtschaft: Investoren stießen türkische Titel ab, die Landeswährung Lira fiel im Vergleich zum Dollar. Simsek, der früher an der Wall Street arbeitete, versuchte die Finanzmärkte zu beruhigen. „In Umständen wie diesen gibt es immer reflexartige Reaktionen, das ist typisch.“

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