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Von „Amerikas Liebling“ zur Filmmogulin

Mary Pickford ist eine Pionierin Hollywoods gewesen - und das gleich auf mehreren Ebenen. Als Schauspielerin setzte sie neue Maßstäbe im Stummfilm, begründete das moderne Startum und war als Produzentin/Hauptdarstellerin die erste Frau Hollywoods, die einen millionenschweren Kontrakt mit einem Filmstudio schloss.

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Der im Sommer 1916 mit den Famous Players Studios des legendären Produzenten Adolph Zukor besiegelte Vertrag war nur ein vorläufiger Höhepunkt in Pickfords rasanter Karriere. Die gebürtige Kanadierin war bereits seit 1912 bei der Filmfirma, aus der später Paramount Pictures hervorging. Das 1916 unterzeichnete Papier garantierte Pickford nicht nur ein monatliches Gehalt von etwa 10.000 US-Dollar, sondern auch bezahlte Sonderprämien in fünfstelliger Höhe für jeden Film.

Mary Pickford betrachtet sich in einem Spiegel

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„Amerikas Liebling“: Pickford glänzte nicht nur vor der Kamera

Zusätzlich wurde Pickford über ihre Produktionsfirma an den Einspielergebnissen der Kinostreifen beteiligt. Der über zwei Jahre laufende Kontrakt brachte ihr so insgesamt mehr als eine Million Dollar. Neben den finanziellen Vorteilen garantierte der Vertrag der pedantischen Arbeiterin die fast vollständige kreative Kontrolle über ihre Filme. Ein Segen für Pickford, die einmal beklagte, dass es „so viele Dinge gibt, die gute Arbeit zunichtemachen können“.

Talent und Chuzpe

Das Zitat ist nicht nur eine Absage an die üblichen Versuche von Studiobossen, Einfluss auf Produktionen zu nehmen. Es illustriert auch einen Charakterzug Pickfords, dem sie ihren Aufstieg verdankt. Neben gewaltigem Talent und dem Willen zu harter Arbeit besaß sie vor allem eines: Chuzpe.

Nach dem Tod ihres alkoholkranken Vaters musste Pickford früh Geld für ihre Mutter und ihre beiden Geschwister verdienen. Als „Baby Gladys“ - abgeleitet von ihrem richtigen Namen Gladys Louise Smith - tourte sie mit Vaudeville-Gruppen, bei deren Musiktheaterinszenierungen sie Bühnenerfahrung sammelte.

Zwischen Filmset und Theaterbühne

Im Alter von knapp 17 Jahren erhielt sie 1907 ihre erste Rolle am New Yorker Broadway. Der Legende nach schwindelte sich Pickford bis zu Produzentenstar David Belasco vor und gab diesem in seinem Büro eine Kostprobe ihrer schauspielerischen Fähigkeiten. Zwei Jahre später soll sie - auf ähnliche Weise - Hollywood-Pionier und Filmemacher D. W. Griffith überzeugt haben, ihr eine Rolle in seinen Streifen zu geben.

Gerade in der Frühphase ihrer Karriere wechselte Pickford mühelos zwischen dem Filmset und der Theaterbühne. Für damalige Zeiten war das mehr als ungewöhnlich. Das Medium Film genoss kein allzu hohes Ansehen. Griffith habe ihre Ambitionen, an den Broadway zurückkehren zu wollen, als „lächerlich“ abgetan, erzählte Pickford in den 1960er Jahren dem amerikanischen Filmhistoriker und Stummfilmspezialisten Kevin Brownlow. Durch ihr Engagement im Film habe sie sich für das Theater „unmöglich gemacht“.

Mehr als das „Mädchen mit den Locken“

Griffith sollte irren. Nach einem erfolgreichen Intermezzo kehrte Pickford ins Filmgeschäft zurück. Als Schauspielerin stieg das „Mädchen mit den Locken“ zu „America’s Sweetheart“ („Amerikas Liebling“) auf. Ihr Repertoire war scheinbar endlos - vom armen Waisenkind bis hin zur reichen alten Aristokratin konnte Pickford so gut wie jeder Figur Leben einhauchen. Nach heutigen Standards könnte man sie mit Hollywood-Stars wie Jennifer Lawrence vergleichen, deren darstellerische Bandbreite ähnlich hoch ist.

Pickford war es nie genug, vor der Kamera zu glänzen, sie wollte Kontrolle über den gesamten kreativen Prozess, der die Entstehung eines Films begleitet. Sie bestritt zwar beharrlich, Kontrolle über die Regisseure ihrer Filme gehabt zu haben - doch Weggefährten zeichnen ein anderes Bild: „Die Regisseure inszenierten oft genug nur die Massenszenen. Sie wusste alles, was es über Film zu wissen gab“, erzählte der Kameramann Charles Rosher einst.

Technische Innovatorin

Außerdem war Pickford maßgeblich an technischen Neuerungen beteiligt. Als sie sich während der Dreharbeiten zu „The Poor Little Rich Girl“ (1917) in aller Herrgottsfrühe zurechtgemacht habe, sei ihr aufgefallen, dass sie das schräg durch Fenster einfallende Licht im Spiegel jünger aussehen lasse, erzählte Pickford Brownlow.

Buchhinweis

Kevin Brownlow: Pioniere des Films. Stroemfeld Verlag, 685 Seiten, 25 Euro.

Pickford, die im Film ein zehn Jahre altes Mädchen spielte, bat Regisseur Maurice Tourneur, einen Scheinwerfer auf eine Seifenkiste zu stellen und ihr Gesicht von unten zu beleuchten. Nach Durchsicht der Aufnahmen habe Tourneur gewusst, was sie meine, so Pickford: „Und von da an benutzten wir einen sogenannten Baby-Spot. Das war seine Geburtsstunde.“

„Oh, wie verabscheue ich diesen Film!“

Pickford war zudem die erste, die einen etablierten europäischen Regisseur nach Hollywood locken konnte. Die Zusammenarbeit mit dem deutschen Regiestar Ernst Lubitsch verlief allerdings alles andere als spannungsfrei. Das erste Ergebnis, der Film „Rosita“, erhielt zwar gute Kritiken - retrospektiv betrachtet würde sie ihn aber nicht mehr für die Aufführung freigeben, erklärte Pickford Jahrzehnte später.

„Oh, wie verabscheue ich diesen Film! Ich konnte den Regisseur Ernst Lubitsch genauso wenig ausstehen wie er mich. Wir ließen uns natürlich nichts anmerken, aber es war eine sehr unglückliche und kostspielige Erfahrung“, so Pickford. Lubitsch gelang es dennoch, in Hollywood Fuß zu fassen - der „Lubitsch Touch“, den er seinen Werken gab, ging als geflügelter Begriff in die Filmgeschichte ein.

Vier Stars proben den Aufstand

Mit dem kommerziellen Aufstieg Hollywoods begannen die Studiobosse in zunehmendem Maße Einfluss auf kreative Prozesse zu nehmen. Als Gegenmaßnahme gründete Pickford mit ihrem guten Freund Charlie Chaplin, Griffith und ihrem späteren Ehemann Douglas Fairbanks im Jahr 1919 das Hollywood-Studio United Artists.

Douglas Fairbanks, Mary Pickford, Charlie Chaplin, and D. W. Griffith, aufgenommen 1910

Public Domain

Fairbanks, Pickford, Chaplin und Griffith (v. l. n. r.)

Die Gründer hielten jeweils 20-prozentige Anteile an der Firma, die restlichen 20 Prozent befanden sich im Besitz des Anwalts William Gibbs McAdoo. United Artists unterschied sich nicht nur dadurch von der Konkurrenz, dass Schauspieler und Regisseure am Ruder waren. Im Gegensatz zu anderen Studios beschränkte sich die Firma auf die Produktion und Distribution von Filmen und besaß keine eigene Kinokette.

Von „Pickfair“ zu „Brangelina“

Im Jahr 1920 ließ sich Pickford von ihrem ersten Ehemann, dem irischstämmigen Schauspieler Owen Moore, scheiden und heiratete Douglas Fairbanks. Das glamouröse Anwesen des Paares in Beverly Hills wurde nach seinen Besitzern „Pickfair“ genannt. Wer eine Einladung nach „Pickfair“ erhielt, der hatte es in Hollywood zu etwas gebracht. Vor knapp 100 Jahren war der 42-Zimmer-Palast das berühmteste Gebäude der USA nach dem Weißen Haus.

Pickford und Fairbanks - die „Königin“ und der „König“ Hollywoods, wie sie genannt wurden - waren das erste Superstarehepaar der Filmindustrie. Und ebenso wie heute Angelina Jolie und Brad Pitt („Brangelina“) hatten auch sie eine soziale Ader. So lud Pickford kriegsversehrte Veteranen zum Dinner nach „Pickfair“. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Türen des Anwesens auch für die Öffentlichkeit.

Tonfilm killed the Stummfilmstar

Im Laufe ihrer Karriere wirkte Pickford in 52 Lang- und vielen weiteren kürzeren Film mit. Das letzte Mal stand sie 1933 vor der Kamera. Ironischerweise hatte Pickford, eine der großen Innovatorinnen des Films, die Bedeutung des Tonfilms unterschätzt.

„Ich habe das Filmen aufgegeben, damit mir nicht dasselbe passierte, was mit Chaplin geschah“, sagte sie einmal. Als er den kleinen Tramp aufgab, habe sich dieser kleine Tramp gegen ihn gewandt und „ihn umgebracht“. Sie wollte es vermeiden, dass die Rolle des „kleinen Mädchens“, auf die sie vor allem in den 1920er Jahren festgelegt wurde, dasselbe mit ihr macht.

Drei Jahre vor ihrem Tod erhielt Pickford 1976 den Oscar für ihr Lebenswerk. Ihre Karriere sei geplant gewesen, nichts sei dem Zufall überlassen worden, bilanzierte sie einst. „Ich bin nicht vollständig zufrieden, aber ich bin dankbar. Und das ist etwas ganz anderes.“

Philip Pfleger, ORF.at

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