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Sorge um weiteren Kurs wächst

Nach Tausenden Festnahmen und nun der Verhängung des Ausnahmezustands in der Nacht auf Donnerstag wächst die Sorge um den künftigen politischen Kurs der Türkei. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) will darüber mit dem türkischen Botschafter in Österreich reden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will offenbar noch härter als bisher gegen mutmaßliche Drahtzieher des Putschversuchs von vergangener Woche vorgehen.

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Man wolle wissen, wohin sich das Land entwickelt, sagte Kurz Donnerstagfrüh im Ö1-Früh- bzw. -Morgenjournal. „Wir haben daher den Botschafter für heute einbestellt.“ Und: Es gibt laut Außenministerium Hinweise darauf, dass die unangemeldeten Pro-Erdogan-Demonstrationen vom Wochenende in Wien „direkt aus der Türkei“ dirigiert worden seien, es sei dazu aufgefordert worden, „auf die Straße zu gehen“. Und das sei „natürlich unhaltbar. Und dagegen wollen wir protestieren“ - mehr dazu in oe1.ORF.at.

Botschafter versteht Kritik nicht

Die „Wiener Zeitung“ veröffentlichte am Donnerstag ein Statement des türkischen Botschafters Mehmet Hasan Gögüs. Aus seiner Sicht wird „voreingenommene und unfaire Kritik geäußert“. Das könne „auch Unterstützung für die Putschisten bedeuten“. Die Türkei sei ein Rechtsstaat, die „Anführer des Putsches hatten es auf den demokratischen, laizistischen und sozialen Staat ebenso wie auf die verfassungsmäßige Ordnung abgesehen. Hinter dem Putschversuch steckt die Terrororganisation Fetullah Gülen“.

Ihm falle es auch „schwer, zu verstehen, warum die Proteste in Wien zur Unterstützung des demokratischen Widerstandes des Volkes in der Türkei am Abend des 15. Juli und am 16. Juli Unbehagen auslösen“, schreibt Gögüs. „Dass Menschen, die im Fernsehen ihre Verwandten und Nachbarn unter den Panzern gesehen haben, auf die Straße gehen, um sich für die Demokratie einzusetzen, ist eine lobenswerte Handlung.“

Beinahe unbeschränkte Befugnisse

Die türkische Führung unter Erdogan hatte zuvor in der Nacht auf Donnerstag den Ausnahmezustand über das ganze Land verhängt. Dieser werde auf drei Monate befristet sein und damit verfassungskonform, erklärte Erdogan nach Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates und der Regierung. Damit kann der Präsident weitgehend per Dekret regieren, Grundrechte wie Versammlungs- und Pressefreiheit können ausgesetzt werden.

Erdogan begründete den Ausnahmezustand mit Artikel 120 der Verfassung. Dieser erlaubt den Schritt bei „weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung“ oder bei einem „gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung“. Der Beschluss wurde bereits wenige Stunden nach der Ankündigung im Amtsanzeiger veröffentlicht und soll noch am Donnerstag dem Parlament vorgelegt werden. Das Parlament kann die Dauer des Ausnahmezustands verändern, ihn aufheben oder ihn auf Bitte des Kabinetts verlängern.

Verhaftungswelle geht weiter

Erstmals seit dem Putschversuch war am Mittwoch der Nationale Sicherheitsrat unter Erdogan in Ankara zusammengekommen. Anschließend tagte das Kabinett unter dem Vorsitz des Präsidenten, um über neue Maßnahmen im Kampf gegen die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen zu beraten. Erdogan macht Gülen für den Umsturzversuch aus den Reihen des Militärs mit mehr als 260 Toten verantwortlich.

Teilnehmer einer Sondersitzung des nationalen Sicherheitsrates der Türkei

APA/AFP/Kayhan Ozer

Die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates

Seit dem Putschversuch geht die Regierung mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor. Zehntausende Staatsbedienstete, davon Tausende Richter, wurden suspendiert, mehr als 8.500 Menschen festgenommen, darunter etwa am Mittwoch auch zwei Verfassungsrichter. Hunderte private Schulen und Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, Unibedienstete dürfen das Land nicht mehr verlassen oder müssen aus dem Ausland in die Türkei zurückkehren.

Die „wichtige Entscheidung“

Erdogan hatte bereits zu Wochenbeginn erklärt, er werde am Mittwoch eine „wichtige Entscheidung“ verkünden. Unter dem Ausnahmezustand können die Behörden beispielsweise Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen sowie Medienberichterstattung kontrollieren und verbieten. Zuletzt war in der Türkei in den mehrheitlich kurdischen Provinzen Diyarbakir und Sirnak Ende 2002 der Ausnahmezustand aufgehoben worden.

Es hat den Anschein, als habe es hinter den Kulissen ein Ringen um die Maßnahme gegeben. Vor den Sitzungen hatte etwa Vizeministerpräsident Nurettin Canikli versichert, es werde „keinen Ausnahmezustand geben“, während zugleich die erdogantreuesten Politiker aus dessen AKP umso lauter den Ausnahmezustand als unbedingt nötig dargestellt hatten, um der Lage Herr zu werden, und zugleich auch die Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe erneuerten.

Was Erdogan nun darf

Der Ausnahmezustand erlaubt etwa die Verhängung von Ausgangssperren, auch gänzliche Verbote von Autoverkehr, von Versammlungen auch in geschlossenen Räumen und der absoluten Zensur von Nachrichtenmedien und anderen Publikationen. Durchsuchungen von Personen, Fahrzeugen und Häusern können die Behörden auf eigene Faust durchführen, und Gegenden können unter Umständen auch komplett polizeilich abgeriegelt und/oder evakuiert werden.

Erdogan-Anhänger in Ankara

APA/AP/Hussein Malla

Erdogans Anhänger fordern die Auslieferung des „Verräters“ Gülen

Der Ausnahmezustand werde „schnelleres“ und „effizienteres“ Handeln als bisher ermöglichen, sagte Erdogan. Schon davor hatte er in einer Sitzungspause in einem Interview mit dem Sender al-Jazeera erklärt, man sei mit den Verhaftungen „noch nicht am Ende angekommen“. Noch sei nicht klar, wie viele Personen genau sich an dem Putschversuch beteiligt hätten. Klar sei aber, dass es sich um eine Minderheit innerhalb des Militärs gehandelt habe.

Ausland an Putsch beteiligt?

In Richtung USA schlug Erdogan mildere Töne an. „Wir müssen feinfühliger sein“, sagte er. Die Beziehung der beiden Länder sei auf Interessen aufgebaut, nicht auf Gefühlen. „Wir sind strategische Partner.“ Erdogan fordert von den USA die Auslieferung Gülens. Die USA verlangen jedoch „handfeste Beweise“ für dessen Verwicklung in den Putsch. Ohne nähere Angaben zu machen, meinte Erdogan außerdem, „andere Länder“ seien möglicherweise an dem Putschversuch beteiligt gewesen.

Als Breitseite gegen die EU bekräftigte Erdogan seine Bereitschaft zur Wiedereinführung der Todesstrafe. „Die Welt ist nicht nur die Europäische Union“, so Erdogan. In den USA, Russland, China und anderen Ländern gebe es die Todesstrafe auch. „Seit 53 Jahren klopfen wir an die Tür der EU. Und sie haben uns 53 Jahre warten lassen“, kritisierte Erdogan. Wenn das türkische Parlament die Todesstrafe wieder einführe, werde er „sie billigen“.

Außenminister Kurz sieht bei Bedarf mögliche diplomatische „Druckmittel“, wie er gegenüber Ö1 sagte. Die gebe es etwa in internationalen Organisationen, auf finanzieller EU-Ebene, es gebe aber auch „verbale“. Erdogan hätte bisher immer reagiert, wenn es „harte Kritik“ gegeben habe. Kurz’ Amtskollege, der deutsche Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, forderte Ankara auf, den Ausnahmezustand so bald wie möglich wieder zu beenden. „Bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuchs dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.“

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