Türkei „verletzlich“
Hohe Wachstumsraten, gestiegener Wohlstand, Geldstabilität: Unter der seit 2002 in der Türkei regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hat das Land einen regelrechten Boom erlebt. Und damit auch die AKP selbst sowie der türkische Präsident (zuvor Ministerpräsident) Recep Tayyip Erdogan.
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Dieser Aufschwung hat seit einiger Zeit einen Dämpfer bekommen. Ausländische Investoren und Geschäftspartner sind abgeschreckt. Mit der durch den gescheiterten Putsch gestiegenen Unsicherheit ist das Vertrauen in die türkische Wirtschaft nicht unbedingt gestiegen. Zwar beruhigte die Regierung kurz nach dem Putschversuch, dass die negativen Folgen für die türkische Wirtschaft nur vorübergehend zu spüren sein würden. Das wirtschaftliche Fundament der Türkei sei solide, betonte Vizeregierungschef Mehmet Simsek.

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Die türkische Zentralbank versprach schon am Wochenende, wenn nötig „unbegrenzte Liquidität“ zur Verfügung zu stellen. Das stoppte zumindest den Verfall der ohnehin schon angeschlagenen türkischen Währung Lira. Doch die internationalen Reaktionen auf die Ereignisse seit Freitag zeigen Beunruhigung. Die Istanbuler Börse brach ein, türkische Staatsanleihen gerieten unter Druck. Die Ratingagenturen Moody’s und Fitch wollen ihre derzeitige Einschätzung der Situation überprüfen. Bei beiden liegt die Türkei derzeit nur noch eine Stufe über Ramschniveau. Internationale Geschäftspartner sind irritiert.
Tourismus brach ein
Die Abkühlung der Wirtschaft zeichnet sich schon länger ab. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisierte Nachlässigkeit bei Reformen. Zu kämpfen hat die Türkei aber auch mit der politischen Unsicherheit und Instabilität, die der Tourismuswirtschaft einen herben Dämpfer versetzte. Häufige Anschläge ließen die Buchungszahlen zuletzt stark zurückgehen. Bei TUI etwa lagen die Buchungszahlen heuer bisher 40 Prozent niedriger als im vergangenen Jahr.

Reuters/Kaan Soyturk
Trotz Hochsaison sind nur wenige Besucher an den Stränden Antalyas zu sehen
Der Tourismus trug im vergangenen Jahr mit knapp 13 Prozent zum BIP in der Türkei bei. Ökonomen gehen davon aus, dass der Umsatz im Tourismus dieses Jahr um ein Viertel zurückgehen wird. Damit dürften dem Land Einnahmen in Höhe von umgerechnet rund sieben Milliarden Euro entgehen. Die einen bleiben aus Angst vor Anschlägen fern. Die anderen durften nicht kommen. Russischen Türkei-Urlaubern wurden aufgrund des Konflikts um den Abschuss eines russischen Kampfjets Charterflüge und Pauschalreisen in die Türkei verboten. Das Verbot ist inzwischen aufgehoben, die Sommersaison hat aber bereits begonnen.
Konsum trug Aufschwung
Schwächen zeigen sich auch bei häufigeren Firmenpleiten und dadurch vielen faulen Krediten bei Banken, die vor allem durch Zahlungsausfälle in der Bau- und Tourismusbranche entstehen. Vor allem kleinere Unternehmen kämpfen mit dem um 30 Prozent erhöhten gesetzlichen Mindestlohn. Der in den vergangenen Jahren aufgebaute Wohlstand basiert zu großen Teilen auf Schulden im Ausland und auf privatem Konsum - parallel gestiegen ist auch die Privatverschuldung. Einige Ökonomen schließen eine Schuldenkrise nicht mehr aus.
Zugleich hat die Türkei ein hohes Handelsdefizit, weil weniger exportiert als eingeführt wird. Vor allem die Ausfuhren nach Russland und in den Irak brachen ein. Die OECD warnt in ihrem kurz vor dem Putschversuch vorgestellten Wirtschaftsbericht, dass die Türkei „verletzlich“ sei „durch volatile internationale Kapitalflüsse und erratische Wechselkursbewegungen“.
Wachstumsraten halbiert
Der Aufschwung wurde abgebremst. Im vergangenen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch um vier Prozent. Die Inflation ist auf fast neun Prozent gestiegen. Das Ziel der Zentralbank liegt eigentlich bei fünf Prozent. Für heuer erwartet die Weltbank noch ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent sowie eine Arbeitslosenrate von rund zehn Prozent.
Aufgrund der großen Verunsicherung werde man das Wirtschaftswachstum für heuer sicher noch nach unten revidieren müssen, ist Türkei-Experte Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) im ORF.at-Gespräch überzeugt: „Ein Alarmzeichen ist auch, dass der Immobiliensektor, der bisher ein Zugpferd der türkischen Wirtschaft war, zuletzt immer weniger geworden ist.“

Grafik: ORF.at; Quelle: worldbank.org
In den ersten Boomjahren unter der AKP und Erdogan als Ministerpräsidenten erreichte die türkische Wirtschaft Wachstumsraten von bis zu neun Prozent, und die Türkei wurde in den Kreis der 20 größten Industriestaaten (G-20) aufgenommen. Zwischen 1995 und 2001 lag die Inflation in der Türkei im Schnitt noch bei 70 Prozent. Die AKP-Regierung konnte diese Rate bis 2004, zwei Jahre nach ihrem ersten Wahlsieg, auf zehn Prozent reduzieren. Dieser Aufschwung trug den Erfolg Erdogans und seiner AKP. Bricht die Wirtschaft ein, fällt damit auch Erdogans Basis für seinen Aufstieg.
„Warnschuss“ Juni 2015
Man habe schon an der Parlamentswahl im Juni 2015 gesehen, dass die AKP einen sicheren Sieg nicht mehr in der Tasche hat. Damals verlor die Partei ihre absolute Mehrheit. Günay: „Das war ein Warnschuss.“ Eine wichtige Rolle dabei spielte laut Günay die verlangsamte wirtschaftliche Entwicklung. Auch die soziale Verteilung des Reichtums sei ungleicher geworden und die klientelistischen Netzwerke drehten sich auch nicht mehr so schnell.
Die AKP holte sich bei der wiederholten Parlamentswahl ein halbes Jahr später aber wieder die verlorenen zehn Prozent. Eine Ursache ist laut Günay dabei auch, dass die Bevölkerung bei der Opposition kaum Alternativen gesehen habe. Trotz aller Instabilität und Involvierung in Konflikte wie in Syrien würden Erdogan und die AKP als Garant für Stabilität gesehen, so Günay.
Grundstein schon in 1980ern gelegt
Die Grundlagen für die wirtschaftlichen Erfolge der AKP-Regierung wurden aber bereits von ihren Vorgängern gelegt. Bereits 2001 wurde ein Stabilisierungsprogramm durchgeführt und damit auch die Zentralbank unabhängig gemacht. Die ersten Privatisierungen und Liberalisierungen der staatlich geprägten Wirtschaft führte schon Ex-Ministerpräsident Turgut Özal gegen erheblichen Widerstand in den 1980er Jahren durch. Nach dessen Tod wurden diese Schritte abgebrochen.
Erdogan nahm beide Reformlinien in den 2000er Jahren wieder auf und setzte den Kurs fort. Die bisher chancenlosen ärmeren Schichten bekamen neue Möglichkeiten. Es formte sich zudem eine neue, konservativ-religiös geprägte Mittelschicht in den Städten als zentrale Unterstützer Erdogans. Für sie stehe die AKP nach wie vor als Symbol für Aufschwung, so Günay. Offen bleibt, wie lange noch.
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