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Viele Fragen noch offen

Mit einer beispiellosen Säuberungswelle in Militär, Justiz und Politik hat die türkische Regierung auf den Putschversuch von Freitagnacht reagiert. Dabei werfen die Ereignisse noch immer zahllose Fragen auf: Nach wie vor ist unklar, warum es zu dem Putschversuch kam, war er doch schlecht oder überhastet geplant und teilweise dilettantisch durchgeführt.

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Wer hinter dem Putsch steckt, ist nach wie vor umstritten. Die türkische Armee trat in der Vergangenheit immer wieder als Hüterin der säkularen Grundprinzipien der Republik und ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk ein. Auch mit der Selbstbezeichnung „Rat für den Frieden im Land“ zitierten die Putschisten Atatürk.

Von der Regierung hingegen wurde von Anfang an die Gülen-Bewegung des islamischen Predigers und einstigen Weggefährten Erdogans, Fethullah Gülen, für den Putsch verantwortlich gemacht. Gülen dementierte jegliche Beteiligung.

Bündnis unterschiedlicher Gruppen?

Beide Theorien haben plausible Argumente, aber auch Schwächen: Fest steht, dass beide Strömungen in der Armee vorhanden sind - aber auch, dass es eben nur mehr Strömungen sind. Erdogan und seine AKP haben in den vergangenen Jahren bereits begonnen, sowohl Kemalisten als auch die Gülen-Bewegung systematisch zu verfolgen und ihnen Einfluss zu nehmen. Von einer Mischung beider Gruppen beim Putsch geht der Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Ilker Atac gegenüber der APA aus: „Meine Vermutung ist, dass innerhalb des Militärs ein Bündnis von unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen zusammenkam.“

Antwort auf geplante Säuberungswelle?

So wäre zu erklären, dass nicht wie früher die ganze Armee, sondern nur Teile davon sich am Putsch beteiligten. Mittlerweile geht man davon aus, dass es ein Putsch der zweiten und dritten Reihe war, auch wenn die Regierung Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk als „formalen Anführer der Junta“ identifiziert haben will. Das erklärt die vergleichsweise geringe Mannstärke, schwerwiegender dürfte zudem die fehlende durchgehende Befehlskette gewogen haben. Kommuniziert wurde offenbar per WhatsApp.

Unklar ist auch der Zeitpunkt für den Putschversuch. Viele Kommentatoren werten die recht planlose Umsetzung als Zeichen dafür, dass die Verschwörer überhastet handeln mussten, vielleicht weil ihre Pläne aufzufliegen drohten. Medienberichten zufolge musste der Putsch jedenfalls einige Stunden vor dem geplanten Beginn gestartet werden.

Türkei-Experte Atac meint, dass kursierende Gerüchte über eine geplante Umstrukturierung im Militär und eine bevorstehende „Säuberungswelle“ den Putsch ausgelöst haben könnten. Die Theorie klingt insofern plausibel, weil jetzt klar wird, dass die Namenslisten dafür fertig in der Schublade lagen.

Was gegen die Verschwörungstheorien spricht

Die Tausenden Verhaftungen und Absetzungen innerhalb kürzester Zeit nähren aber auch die Verschwörungstheorien, die schon in der Putschnacht laut wurden und nie verstummt sind - nämlich dass die Regierung den Umsturz inszenierte oder zumindest davon wusste. Eine reine Inszenierung gilt aber als Science-Fiction-Szenario: Zu riskant und logistisch undurchführbar wäre eine solch große Täuschung wohl gewesen.

Es kursiert auch die „entschärfte“ Theorie, die besagt, dass die Regierung von den Putschplänen zumindest ansatzweise wusste, man die Verschwörer aber gewähren ließ, um nach dem Scheitern eine große Säuberungswelle zu starten. Auch das klingt nach einem hochriskanten Planspiel.

Denn dazu kommt die ökonomische Komponente: Der Putsch wird verheerende Auswirkungen auf die ohnehin vom Terror gebeutelte türkische Wirtschaft haben - und genau das ist Erdogans Achillesferse: Mit dem Aufschwung und einem gewissen Maß an Wohlstand konnte er weite Teile der ärmeren Bevölkerung hinter sich versammeln.

Erdogan mit ungewöhnlicher Reaktion

Diese Anhängerschaft trug zu einem Gutteil dazu bei, dass der Putsch verhindert wurde: In Bedrängnis gebracht setzte der Präsident zunächst ungewöhnliche Schritte. Nachdem das Militär den Staatssender TRT eingenommen hatte, setzte er auf den von der AKP oft gescholtenen Privatsender CNN Türk. Dort meldete er sich via Handyschaltung per FaceTime zu Wort - obwohl ihm genau diese Neuen Medien und Sozialen Netzwerke früher ein Dorn im Auge waren.

Erdogan rief seine Anhänger auf, sich auf der Straße gegen die Putschisten zu stellen, nicht nur im Fernsehen, sondern auch per SMS an Millionen Türken und mit einem weiteren Verbündeten. Aus den Moscheen riefen in den Nachtstunden die Muezzins dazu auf, sich auf öffentlichen Plätzen zu sammeln.

Schüsse auf Zivilisten als Tabubruch

Zu Tausenden stellten sich Menschen in Istanbul und Ankara den Panzern der Putschisten in den Weg, die Gewalt eskalierte. Spätestens als das Militär begann, auf die Bevölkerung zu schießen, hatte es jede vielleicht vorher vorhandene Glaubwürdigkeit verspielt. Umgekehrt massakrierte der Mob Medienberichten zufolge einige Soldaten.

Grafik zum Militärputsch in der Türkei

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/dpa

Schon zuvor hatten die Putschisten rein militärstrategisch mehrere grobe Fehler begangen. So wurde der Sender TRT besetzt, um die angebliche Machtübernahme zu verkünden. Erst nachdem Erdogan dort lange interviewt wurde, drangen Soldaten auch bei CNN Türk ein und zwangen den Sender vorübergehend zur Aussetzung des Betriebs.

Erdogan konnte fliehen

Auch bei Erdogan kam man zu spät. Der Präsident hielt sich - wie erst später bekannt wurde - Freitagabend in dem Badeort Marmaris auf. Drei Militärhubschrauber mit Putschisten trafen dort erst ein, als Erdogan bereits weg war und in einem Regierungsflugzeug saß. Laut Medienberichten hatten von den Putschisten gekaperte F-16-Kampfjets dieses dann sogar im Visier, schossen es aber nicht ab. Auch die Motivation, das Parlament in Ankara mehrmals zu bombardieren, ist unklar.

Grafik zum Militärputsch in der Türkei

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/dpa

Und schließlich konnte der kurzfristig übernommene Atatürk-Flughafen in Istanbul nicht gehalten werden, was Erdogan die Möglichkeit gab, sich noch in der Nacht vor Tausenden Anhängern zu präsentieren - und damit Stärke zu zeigen.

Kein Rückhalt

Offenbar unterschätzt hatten die Putschisten zudem die Rolle der Polizei, die bekannterweise loyal zur Regierung ist und sich ihnen in den Weg stellte. Möglicherweise erkannten sie generell einfach die Zeichen der Zeit nicht.

Eine gewählte Regierung aus dem Weg zu räumen und damit die Demokratie zu unterminieren, hat keinen Rückhalt in den Bevölkerung, auch wenn die Demokratie zunehmend autoritäre Züge aufweist. Auch sämtliche Parteien verurteilten den Putschversuch, wenn auch teilweise zu einem Zeitpunkt, als sein Scheitern schon absehbar war.

Mobilisierungsfähigkeit unterschätzt

Vor allem aber unterschätzten die Putschisten die Mobilisierungsfähigkeit der AKP: Dass sich deren Anhänger auf den Straßen vor die Panzer stellten, überforderte sie ebenso wie die Tatsache, dass es in Zeiten von Medienpluralismus und Sozialen Netzwerken - selbst wenn Zensur und Selbstzensur auf der Tagesordnung stehen - nicht wie früher reicht, einen Fernsehsender zu kapern. Allerdings: Die Türkei scheint nun auf Zeiten zuzusteuern, in denen die ohnehin schon dezimierten Werte wie Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz, freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit ernsthaft gefährdet sind.

Christian Körber, ORF.at

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