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In Kims Reich ist Songbun alles

„Teil des Kerns“, „Basis“ oder „komplex“? Diese drei Kategorien bestimmen das Leben von Millionen Menschen: Nordkoreas Bevölkerung untersteht seit Jahrzehnten einem System sozialer Kasten, dessen Verlierer kaum aufsteigen können. Dabei entscheidet Songbun über die Schicksale ganzer Generationen.

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Das Kastenwesen in Indien ist bekannt und berüchtigt: Die Einteilung der Bevölkerung von der Geburt bis zum Tod in bestimmte Gruppen determiniert noch heute das Schicksal der Inder. Weniger bekannt ist, dass auch in Nordkorea eine Art von Kastensystem existiert: Im kommunistischen Regime entscheidet Songbun - übersetzt „Zutat“ oder „Hintergrund“ –, wie sich Zukunft und Lebensweg der Menschen ausgestalten, und zwar über Generationen hinweg.

Zwei Faktoren geben den Ausschlag

Das System wurde in den späten 1950er Jahren im Land etabliert. Nordkoreas Gründervater Kim Il Sung führte es ein, um Feinde zu beseitigen und Freunde zu belohnen. Sukzessive entfaltete sich Songbun in der folgenden Dekade zur übergeordneten Matrix der Gesellschaft. Es teilt die Menschen in Gruppen ein, und zwar nach zwei Faktoren: eigener Systemtreue und familiärem Hintergrund.

Wie Status und Haltung der väterlichen Vorfahren während der japanischen Kolonialisierung (1919 bis 1945) und des Korea-Kriegs (1950 bis 1953) waren, entschied über das Schicksal der folgenden Generationen. Was sich der Großvater in den Augen des Regimes zuschulden kommen ließ, darunter leiden Jahrzehnte später noch die Enkel. „Offiziell findet man dazu keine Hinweise, Songbun steht in keinem Gesetz und keiner Verordnung. Aber in Nordkorea weiß jeder darüber Bescheid“, sagt Hanns Günther Hilpert von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik gegenüber ORF.at.

Einteilung in drei Gruppen

Es sind ursprünglich drei Gruppen, in die Kim die Menschen des noch jungen kommunistischen Staates trennte: „Teil des Kerns“, „schwankend“ und „feindlich“. Jede Kategorie wurde noch durch diverse Unterteilungen definiert, über die minutiös Buch geführt wurde. Im Lauf der Jahre entwickelte sich das System laut UNO weiter: „Schwankend“ und „feindlich“ wurden zu einer Kategorie - der untersten - zusammengefasst, unter der Bezeichnung „komplex“. Die mittlere Gruppe wurde fortan neutraler „Basis“ genannt.

Songbun bestimmt so über weite Teile die Schicksale der Menschen mit: Etwa ob sie in Pjöngjang oder anderen großen Städten wohnen dürfen; ob sie als Lehrer oder Polizisten angenommen werden; welche Bildung sie erhalten, wen sie heiraten dürfen, wie weit sie im Leben kommen werden. Viele Nordkoreaner wünschen sich etwa Posten bei der Geheimpolizei – auch darüber entscheidet Songbun. Die Familien der Anwärter werden laut dem britischen „Guardian“ bis in die sechste Generation beleuchtet – alle müssen eine weiße Weste haben, sonst ist man schnell raus aus dem Rennen um die begehrten Jobs.

Diskriminierung auf vielen Ebenen

Gute Karten hat der „Kern“: Ihn bilden die dem Regime Loyalen. Darunter fallen Angehörige und Freunde der Diktatorenfamilie, Funktionäre und ehemalige Widerstandskämpfer gegen die Japaner. Treue Bauern und Arbeiter erhielten in den 1960ern diesen Status und konnten auf eine glorreiche Zukunft hoffen.

Nordkoreanische Bauern im Feld

APA/AFP/Kathi Zellweger

Bauern erhielten vom Regime meist ein gutes Songbun

Sie tauschten Ansehen, Macht und soziale Stellung mit Kims politischen Gegnern, mit Kollaborateuren des Südens oder Japans, mit Landbesitzern, Aristokraten oder Klerikern, die von nun an als „feindlich“ eingestuft wurden. Seit den späten 1950er Jahren sollen so mehr als drei Millionen Menschen in diese Kategorie eingeteilt worden sein, wie das Magazin „Foreign Affairs“ berichtet. Sie werden vom Regime als Klassenfeinde angesehen und sind Opfer von Diskriminierung auf vielen Ebenen: Arbeit, Bildung, Nahrung, Gesundheitsversorgung. Raum für persönliche Entscheidungen gibt es hier kaum.

Einspruch ist kaum möglich

Die UNO, die 2014 einen detaillierten Bericht über die Menschenrechtslage in Nordkorea publizierte, kann über den heutigen Einfluss des Songbun-Systems nur wenig Auskunft geben. Zahlen von 2009 geben Hinweis darauf, dass rund 28 Prozent der Bevölkerung dem „Kern“ zugeordnet werden, der „Basis“ etwa 45 Prozent. Der noch stattliche Rest wird als „komplex“ klassifiziert.

Neue Hochhäuser in Nordkoreas Hauptstadt Pjönjang

Reuters/Damir Sagolj

Pjöngjang: Auch wer hierher ziehen will, braucht eine gute Einstufung

Der Verwaltungsapparat hält die Klasseneinteilung jeder Familie fest, sie zu fälschen oder zu ändern ist schwer möglich. Dem Einzelnen ist Zugang zu den Informationen üblicherweise verwehrt. So haben die Betroffenen gar nicht die Möglichkeit, Anschuldigungen zu entkräften oder sich zu verteidigen.

Dem Schicksal entfliehen

Aus dieser Sippenhaftung zu entkommen ist in Nordkorea schwer bis unmöglich – auch heute noch. Songbun ist ein Schicksal, da es zu weiten Teilen von der Abstammung herrührt. Doch auch in Nordkorea sind manche Entwicklungen unaufhaltsam. Seit der Machtübernahme 2011 legt Diktator Kim Jong Un den Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung. Die Kontrollen über Bauern und Staatsfirmen wurden gelockert, Sonderwirtschaftszonen eingerichtet.

Mit dem Business kommt das Geld – und damit könnte auch das System Songbun sanft aufgeweicht werden in einem der korruptesten Länder der Welt. Zumindest der Zugang zu manchen Privilegien scheint nicht mehr allen Untergeordneten unerreichbar – etwa die Parteimitgliedschaft, erste und wichtigste Voraussetzung für Aufstieg in Nordkorea.

Gesellschaft vor dem Wandel

„Die wirtschaftlichen Entwicklungen in Nordkorea sind eine spannende Angelegenheit“, sagt Asien-Forscher Hilpert. Zu den Auswirkungen auf die Gesellschaft gebe es aber noch keine wissenschaftlichen Daten. Die leichte wirtschaftliche Öffnung soll zumindest für einige die Chance zum Aufstieg, am Klassensystem vorbei, ergeben - „für jene, die das System zu nutzen wissen“. Kims Wirtschaftsreformen werden erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft des Landes haben, ist Hilpert überzeugt. Mit der Zeit werde so das ganze System „nicht abgeschafft, aber transformiert“.

Bis dato sind noch keine breitenwirksamen Veränderungen wahrnehmbar. Bei zahlreichen Gelegenheiten kündigte der Machthaber an, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben – ob damit alle Nordkoreaner gemeint sind oder nur jene mit gutem Songbun, lässt Kim offen.

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