„Kein Freibrief für Willkür“
Nach den jüngsten Entwicklungen in der Türkei ist die EU um eine unmissverständliche Position bemüht - als Hauptthema erweist sich die Ankündigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan, man werde die Wiedereinführung der Todesstrafe erwägen. Für Brüssel ist damit eines klar: Der EU-Beitrittsprozess Ankaras wäre damit gestoppt.
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„Kein Land kann EU-Mitglied werden, wenn es die Todesstrafe einführt“, erklärte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Montag beim EU-Außenrat in Brüssel. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister John Kerry sagte Mogherini, eine solche Position gehöre „zu unserem Besitzstand“.
Außerdem müsse sich die Türkei als Mitglied des Europarats „an die Europäische Konvention über Menschenrechte halten“. Das sei „auch ganz eindeutig, so wie bei der Todesstrafe“. Die EU sei außerdem die erste Institution gewesen, die gefordert habe, die legitimen Institutionen vor einem Putschversuch zu schützen. „Das darf aber kein Vorwand sein, dass sich ein Land von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wegbewegt“, so Mogherini.
Europarat: Türkei müsste austreten
Apropos Europarat-Mitgliedschaft: Falls die Türkei die Todesstrafe wieder einführt, muss sie nach Angaben der internationalen Organisation austreten. Kein Mitgliedstaat des Europarates könne die Todesstrafe verhängen, sagte Europarats-Generalsekretär Thorbjörn Jagland am Montag. „Es handelt sich um eine Verpflichtung, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention steht“, fügte Jagland hinzu.
Die Türkei habe die Zusatzprotokolle 6 und 13 unterzeichnet, in denen „die Todesstrafe unter allen Umständen abgeschafft wird“. Das Protokoll 6 aus dem Jahr 1983 schließt die Todesstrafe für Taten in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr nicht aus. Im Protokoll 11 aus dem Jahr 2002 heißt es jedoch, dass die Todesstrafe unter allen Umständen abgeschafft wird.
„Würde Ende der Verhandlungen bedeuten“
Gleichzeitig stellte auch Deutschland seine Position klar, wonach eine Einführung der Todesstrafe der Türkei den Weg in die EU versperren würde. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wies Erdogan laut Angaben einer Regierungssprecherin in einem Telefonat darauf hin, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe von Deutschland und der Europäischen Union vehement abgelehnt werde und „mit dem Ziel einer EU-Mitgliedschaft in keiner Weise vereinbar“ sei.

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Die türkische Regierung möchte den „Willen der Menschen nicht ignorieren“
Merkel habe in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Türkei das 13. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention unterzeichnet habe, das die Staaten zur vollständigen Abschaffung der Todesstrafe verpflichtet. Merkel forderte Erdogan auf, sich an die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu halten. Sie habe dem Staatspräsidenten zudem ihr Mitgefühl über die vielen bei dem Umsturzversuch zu Tode gekommenen und verletzten Menschen zum Ausdruck gebracht. Erneut verurteilte sie den Putschversuch scharf.
Beunruhigung wegen Richterfestnahmen
Zuvor hatte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn in diesem Zusammenhang erklärt, dass ihn das Vorgehen der türkischen Regierung gegen ihre Gegner sehr besorgt mache. Hahn zeigte sich speziell über die Festnahme von Richtern beunruhigt. Offenbar seien Listen für Verhaftungen bereits vorbereitet gewesen.
„Dass die Listen schon nach dem Ereignis verfügbar waren, weist darauf hin, dass es vorbereitet war.“ Man habe sofort nach den Ereignissen die Erwartung geäußert, dass die Aufarbeitung nach internationalem Recht erfolge, sagte Hahn. „Nach dem, was wir sehen, ist das nicht wirklich der Fall.“ Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kommentierte Hahns Vorwurf auf Twitter als „nicht akzeptabel“.
Kern: „Dann kann Türkei kein Partner sein“
Auch Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sieht die Wiedereinführung der Todesstrafe als unvereinbar mit einem EU-Beitritt des Landes. „Wenn dort die Todesstrafe eingeführt wird, dann heißt das einen Abschied aus dem demokratischen Grundkonsens. Das ist klar, dann kann die Türkei kein Partner sein“, sagte Kern im Bundeskanzleramt. Er betonte, die weitere Entwicklung in der Türkei müsse nun abgewartet werden. Kern hoffe auf eine Stabilisierung der Lage. „Es kann sich auch die Türkei nicht leisten, die Türen zuzumachen. Wir brauchen die Türkei als stabilen Partner.“
Mit Todesstrafe „definitiv kein Platz in der EU“
Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) bezeichnete die Lage in der Türkei als „bedenkliche Entwicklung“. Natürlich sei der Putschversuch zu verurteilen, „aber genauso klar muss sein, dass er nicht als Freibrief für Willkür verwendet werden darf“. Die Verhaftungswelle sei „absolut inakzeptabel. Klar muss auch sein, wer die Todesstrafe einführt, hat definitiv keinen Platz in der EU“, so Kurz.
Auf die Frage, ob die Beitrittsverhandlungen angesichts der Geschehnisse weitergehen sollen, oder ob neue Bedingungen der EU definiert werden sollten, sagte Kurz: „Aus meiner Sicht darf Europa nicht tatenlos zusehen. Die Veränderungen in der Türkei sind sehr bedenklich. Die Türkei hat sich in den letzten Jahren ohnehin schon stetig weiter von Europa wegentwickelt“, meint der Außenminister. Die „Verletzung der europäischen Grundwerte“ müsse man „aktiv thematisieren“ und „Grenzen aufzeigen“.
„Wir hören Eure Forderung“
Erdogan hatte bereits am Wochenende angekündigt, man werde mit der Opposition über die Wiedereinführung der Todesstrafe beraten. Das solle bald erfolgen, sagte Erdogan vor Anhängern im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, die während seiner Rede immer wieder nach der Todesstrafe für die Putschisten riefen. „Wir hören Eure Forderung. In einer Demokratie müssen die Menschen bekommen, was sie wollen“, so Erdogan.

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Yildirim will Putschisten „in strengster Weise zur Rechenschaft" ziehen
Erdogan bekräftigte seine Position am Montag in einem Interview mit dem Sender CNN. Für die Wiedereinführung der Todesstrafe sei „natürlich eine Entscheidung des Parlaments nötig“, erklärte Erdogan. Daher müssten die Parteiführer zusammenkommen und darüber diskutierten. Sollten sie es (die Wiedereinführung der Todesstrafe) akzeptieren, „werde ich als Präsident jede Entscheidung billigen, die aus dem Parlament kommt“. Es handle sich bei dem Putschversuch „um klaren Hochverrat“.
„Wille der Menschen kann nicht ignoriert werden“
Auch Premier Binali Yildirim erklärte am Montag, dass man bei der Entscheidung über die Todesstrafe nicht überhastet entscheiden dürfe, aber „der Wille der Menschen nicht ignoriert“ werden könne. „Das ist ein Thema, über das im Detail nachgedacht werden muss, über das im Parlament debattiert werden muss“, sagte der Ministerpräsident. Eine Wiedereinführung setze zudem eine Verfassungsänderung voraus.
Bei einer Kundgebung in Ankara beantwortete er lautstarke Forderungen der Menge nach der Todesstrafe mit den Worten: „Wir haben Eure Botschaft erhalten.“ Die Putschisten würden „in strengster Weise zur Rechenschaft gezogen“.
Seit 1984 nicht mehr vollstreckt
Die prokurdische Oppositionspartei HDP erklärte mittlerweile, sie werde keinerlei Vorschläge im Parlament für die Wiedereinführung der Todesstrafe unterstützen. Schon bei vorherigen Reden hatte Erdogan angekündigt, dass sich das Parlament mit dem Thema beschäftigen werde. Die Todesstrafe ist in der Türkei seit 1984 nicht mehr vollstreckt und 2004 abgeschafft worden.
EU hält an Flüchtlingsabkommen fest
Unterdessen hält die EU-Kommission am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei vom März fest. Man hoffe, dass die Regierung in Ankara ihre Zusagen genauso wie die EU weiter umsetze, sagt der Chefsprecher der Brüsseler Behörde. Umstritten sind die Voraussetzungen für die vereinbarte Visabefreiung für Türken bei der Einreise in die EU, die unter anderem eine Abmilderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze vorsehen.
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