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Tausende Militärs festgenommen

Der Putschversuch in der Türkei ist laut Regierung abgewehrt. „Die Lage ist vollständig unter Kontrolle“, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim am Samstag in Ankara. Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte den Mitgliedern des Putschversuchs Härte und kündigte eine „Säuberung des Militärs“ an. „Dieser Aufstand ist für uns ein Geschenk Gottes, denn er liefert uns den Grund, unsere Armee zu säubern.“

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Nach Regierungsangaben wurden bei dem versuchten Umsturz in der Nacht zum Samstag 265 Menschen getötet - 104 Putschisten und 161 weitere Menschen. Nahezu 1.500 wurden verletzt. Sowohl Erdogans islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die kurdische HDP - stellten sich gegen den Putschversuch.

Fast 3.000 Richter abgesetzt

2.839 Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte wurden nach Regierungsangaben festgenommen, unter ihnen der Oberbefehlshabende der Zweiten Armee, General Adem Huduti. 2.745 Richter wurden abgesetzt. Zudem seien fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara vom Dienst entbunden worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Gegen sie liefen Ermittlungen, hieß es zur Begründung. Ein Verfassungsrichter ist einem Medienbericht zufolge verhaftet worden.

Binali Yildirim, Bekir Bozdag, Hulusi Akar, Efkan Ala, Fikri Isik

APA/AFP/Adem Altan

Premier Yildirim (Mi.) spricht von einem „Tag der Demokratie“

Fregatte gekapert: Flottenchef als Geisel

Auch der Chef des Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, erklärte, der Einsatz gegen die Putschisten sei weitgehend abgeschlossen. Vereinzelte Operationen würden aber noch einige Stunden andauern. Nach von der Türkei unbestätigten Angaben griechischer Militärs kaperten Putschisten im türkischen Marinestützpunkt Gölcük eine Fregatte und nahmen den türkischen Flottenchef als Geisel fest. In Nordgriechenland wurden acht Insassen eines dort gelandeten türkischen Militärhubschraubers festgenommen. Sie suchten laut den Behörden um politisches Asyl an, die türkische Regierung verlangt ihre Auslieferung.

Premier denkt über Todesstrafe nach

Yildirim sprach von einer „Parallelstruktur“ in den Streitkräften, aus der heraus der Putschversuch unternommen worden sei. Die Angehörigen dieser Gruppe seien mittlerweile in den Händen der Justiz. Zugleich brachte Yildirim die 2004 abgeschaffte Todesstrafe ins Gespräch. Die sei zwar in der Verfassung nicht vorgesehen, man werde aber Gesetzesänderungen prüfen, um zu verhindern, dass sich ein Putschversuch wiederhole.

Erdogan will Armee „säubern“

Auch Erdogan, der wie Yildirim der islamisch-konservativen AKP angehört und dem Kritiker eine zunehmend autoritäre Politik vorwerfen, schwor den Aufständischen Rache. Er warf ihnen „Hochverrat“ vor, für den sie einen hohen Preis zahlen müssten. Erdogan kündigte mit den Worten „dieser Aufstand ist für uns ein Geschenk Gottes“ eine „Säuberung der Armee“ an.

Pro-Erdogan Demonstranten feiern

Reuters/Tumay Berkin

Erdogan rief die Bevölkerung mehrfach zum Widerstand auf

Seinen in den USA lebenden Erzfeind Fethullah Gülen beschuldigte Erdogan, hinter dem Putsch zu stecken. Er hält Gülen schon seit Langem vor, mit Hilfe von Gefolgsleuten in der Justiz und dem Militär die Regierung stürzen zu wollen. Gülen bestreitet allerdings jede Beteiligung und verurteilte den Putschversuch.

Parteien verurteilen Putsch geschlossen

Am Samstag kam im beschädigten Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Ankara die türkische Nationalversammlung zu einer Sondersitzung zusammen. Die Abgeordneten verharrten in einem Moment der Stille, bevor die Nationalhymne abgespielt wurde, wie auf Fernsehbildern zu sehen war. Ministerpräsident Yildirim betrat unter dem Applaus der Abgeordneten den Sitzungssaal. Er sagte, die Putschisten seien „Terroristen“ und keine Soldaten.

Die vier wichtigsten Parteien im Parlament (AKP, CHP, HDP und MHP) verurteilten anschließend in einer gemeinsamen Erklärung den Putschversuch. Diese Einigkeit sei von unschätzbarem Wert für die Demokratie in der Türkei, heißt es in dem Papier, das vor den Abgeordneten verlesen wurde.

Chaotische Nacht

Am späten Freitagabend war Chaos ausgebrochen, als eine Gruppe Militärangehöriger versucht hatte, die Macht an sich zu reißen. Sie ließ Kampfflugzeuge und Hubschrauber über der Hauptstadt Ankara kreisen. Dort harrten Abgeordnete während der Nacht im Parlament aus, das von Panzern aus beschossen wurde. In der Metropole Istanbul riegelten Aufständische zeitweise die Brücken über den Bosporus ab. Der Tankerverkehr durch die Meerenge wurde vorübergehend gestoppt, die Flughäfen wurden zeitweise geschlossen.

Zerstörter Raum im Parlament

Reuters

Das Parlamentsgebäude trug schwere Schäden davon

Putschende Armeekräfte übernahmen die Kontrolle über den staatlichen Fernsehsender TRT, über den eine landesweite Ausgangssperre und das Kriegsrecht ausgerufen wurden. Eine Ansagerin verlas auf Geheiß des Militärs eine Erklärung, in der der Regierung vorgeworfen wird, die demokratische, säkulare Rechtsordnung zu untergraben. Das Land solle von einem „Friedensrat“ geführt werden, der die Sicherheit der Bevölkerung gewährleiste. Kurz darauf stellte TRT den Sendebetrieb kurzzeitig ein.

Während des Putschversuchs in der Nacht auf Samstag sollen nach unbestätigten Berichten womöglich Soldaten misshandelt und sogar gelyncht worden sein. Auf in Sozialen Netzwerken verbreiteten Videos sind entsprechende Handlungen zu sehen.

Erdogan appelliert an Bevölkerung

Erdogan, der sich im Urlaub an der Küste befunden hatte, traf in der Nacht auf Samstag auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul ein, den die Verschwörer vergeblich unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Bereits zuvor hatte er per Telefon im Fernsehsender CNN Türk an seine Landsleute appelliert, auf die Straßen zu gehen und die Regierung zu verteidigen. Tausende Türken folgten dem Aufruf und zeigten ihre Unterstützung für die Regierung. Am Samstagmittag rief Erdogan per SMS erneut die Bevölkerung auf, sich auf den Straßen einem „kleinen Kader“ entgegenzustellen.

Selfie auf einem Panzer in Istanbul

APA/AFP/Bulent Kilic

Viele Türken folgen Erdogans Aufruf und gehen auf die Straße

Notfallhotline

Das Außenministerium richtete eine Beratungshotline ein: 0043-1-90115-4411

Das türkische Militär hat in der Vergangenheit bereits mehrfach die Macht an sich gerissen, um die säkularen Grundlagen des Staates zu verteidigen. Erdogan wurde 2003 Ministerpräsident und ist seit 2014 Staatsoberhaupt der Türkei. Er strebt eine größere Machtfülle für das Präsidentenamt an. Erdogan ist ein wichtiger, aber umstrittener Partner der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise.

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