„Lage unter Kontrolle“
In der Türkei hat es in der Nacht auf Samstag einen Putschversuch aus den Reihen des Militärs gegeben. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Ankara und der Metropole Istanbul mit Dutzenden von Toten und einer über Stunden unklaren Entwicklung erklärte die Regierung in den frühen Morgenstunden, die Situation weitgehend unter Kontrolle zu haben.
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Präsident Recep Tayyip Erdogan machte die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den versuchten Militärputsch verantwortlich. Der Versuch zur Übernahme der Macht durch einen Teil des Militärs sei „Verrat und eine Rebellion“, sagte er in der Nacht zu Samstag bei einem Fernsehauftritt auf dem Istanbuler Atatürk-Flughafen. Dort war er kurz zuvor mit seinem Flugzeug gelandet und von einer jubelnden Menschenmenge empfangen worden.

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Erdogan wandte sich noch in der Nacht an die Bevölkerung
Er werde die Türkei nicht den „Besetzern“ überlassen, versicherte Erdogan. „Sie werden einen hohen Preis für diesen Verrat zahlen.“ Erdogan sagte, er habe sich zuvor in einem Hotel in Marmaris an der türkischen Mittelmeerküste aufgehalten. Kurz nach seiner Abreise sei das Hotel bombardiert worden. Noch in den frühen Morgenstunden berichteten Twitter-User von Schüssen in Marmaris.
Gülen-Bewegung distanzierte sich
Die Gülen-Bewegung distanzierte sich von dem Putschversuch und erklärte in den USA, sie verurteile „jede militärische Intervention in die Innenpolitik der Türkei“. Wie der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim mitteilte, gab es im Zusammenhang mit dem Putschversuch bereits mehr als 130 Festnahmen. Ein General, der zu den Putschisten gehörte, sei in der Nacht getötet worden. Medienberichten zufolge wurde der Generalstabschef Hulusi Akar von den Putschisten als Geisel genommen. Erdogan sagte, er wisse nicht, wo sich der Armeechef derzeit befinde.

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Erdogan wurde in Istanbul von einer jubelnden Menge empfangen
Schüsse in CNN-Redaktionsgebäude
Yildirim sagte nach Angaben aus dem Präsidialamt: „Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle.“ Allerdings war die Lage auch am frühen Morgen noch völlig unübersichtlich. Rund 30 Soldaten übergaben auf dem Taksim-Platz laut Augenzeugen ihre Waffen an bewaffnete Polizisten. Der Sender NTV berichtete, 50 Soldaten seien festgenommen worden. Auf Fernsehbildern waren Polizisten zu sehen, die Soldaten abführten. Das Militär sei angewiesen, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen. Kampfflugzeuge mit einem entsprechenden Auftrag seien von der Luftwaffenbasis Eskisehir abgehoben, hieß es aus dem Präsidialamt.

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Soldaten auf dem Taksim-Platz händigen ihre Waffen an die Polizei aus
Berichten zufolge gab es am frühen Morgen in Istanbul noch Gefechte, doch die Anzeichen für einen Zusammenbruch des Putschversuchs mehren sich. Die Sender TRT und CNN-Türk, die zwischenzeitlich von den Soldaten besetzt worden waren, nahmen ihren Betrieb wieder auf.
Erdogan rief zu Widerstand auf
Am späten Freitagabend hatten türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan begonnen. Das Präsidialamt und Regierungsvertreter bestritten das allerdings. Erdogan rief in einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf.
„Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie", hatte das Präsidialamt mitgeteilt. "Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.“
Kampfjets im Tiefflug über Istanbul
In Istanbul waren nach Augenzeugenberichten Schüsse in den Straßen zu hören. Kampfjets flogen im Tiefflug über die Stadt. Gegen 2.40 Uhr Ortszeit (1.40 MESZ) wurde Istanbul von einer schweren Explosion erschüttert.
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Außerdem sei ein Hubschrauber der Putschisten in Ankara von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.
Soldaten in Ankara festgenommen
Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, in Istanbul seien sechs Zivilisten durch Schüsse getötet und fast hundert verletzt worden. Die Toten und Verletzten seien in ein Krankenhaus auf der asiatischen Seite der Stadt eingeliefert worden. Der Sender NTV berichtete, 13 Soldaten seien bei dem Versuch festgenommen worden, ins Präsidialbüro in Ankara einzudringen.
Ministerpräsident Yildirim sagte, einige Anführer des Putschversuchs seien festgenommen worden. „Die Demokratie wird gewinnen“, sagte Yildirim nach Angaben aus dem Präsidentenpalast. Die Verantwortlichen würden bestraft werden.
Tausende strömen auf die Straßen
Alleine im Istanbuler Stadtteil Tophane waren Hunderte Gegner des Putsches auf die Straße gegangen. Ein dpa-Reporter berichtete am frühen Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem „Gott ist groß“ und „Nein zum Putsch“ gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Livebilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Straße und schwenkten türkische Fahnen.
In der türkischen Hauptstadt Ankara kam es einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hieß es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt.

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Auch in Ankara lieferten sich Polizei und Militär Gefechte
In einer Erklärung, die Putschisten im Staatssender TRT 1 verlesen ließen, hieß es, mit dem Putsch sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden.
Militär brachte Flughafen unter Kontrolle
Einem Medienbericht zufolge hatten Streitkräfte den Flugverkehr auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul zwischenzeitlich gestoppt. Soldaten hätten den Tower auf dem größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, hatte die Nachrichtenagentur DHA gemeldet. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten auf das Flughafengelände ein. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.
Internationale Unterstützung für Erdogan
US-Präsident Barack Obama rief dazu auf, die demokratisch gewählte Regierung des Landes zu unterstützen. Gewalt und Blutvergießen müssten vermieden werden, hieß es in einer Mitteilung des Weißen Hauses. Ähnlich äußerte sich dazu die EU. Sie verlangte eine „schnelle Rückkehr“ zur verfassungsmäßigen Ordnung in der Türkei, wie es am Rande des Asien-Europa-Gipfels in Ulan Bator in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini hieß. „Die Türkei ist ein wichtiger Partner der EU.“
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief zu Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen und der türkischen Verfassung auf.
4.000 Erdogan-Anhänger bei Demo in Wien
Auch außerhalb der Türkei gingen Erdogan-Anhänger auf die Straße. In Wien demonstrierten laut Polizei rund 4.000 Menschen zunächst vor der türkischen Botschaft in der Prinz-Eugen-Straße, von wo sie dann nach einem kurzen Stopp beim Parlament in Richtung Stephansplatz zogen.
Kurz nach 3.00 Uhr habe sich die Versammlung aufgelöst, wie ein Polizeisprecher der APA sagte. Gegen Ende seien es noch „einige hundert Personen“ gewesen. Die Kundgebung sei friedlich verlaufen. Die Schlachtrufe seien „Pro Erdogan“ gewesen. Die Menschen marschierten dabei auch den Ring entlang, der von der Exekutive teilweise kurzfristig gesperrt werden musste. Die Kundgebung sei friedlich verlaufen.
Außenministerium: „An sicherem Ort bleiben“
Das Außenministerium rief die Österreicher in der Türkei auf, angesichts des Militärputsches „an einem sicheren Ort“ zu bleiben. Im Notfall und bei Fragen soll das Außenministerium unter der Telefonnummer 0043-1-90115-4411 kontaktiert werden, heißt es in den am späten Freitagabend aktualisierten Reisehinweisen.
„Derzeit ist eine Militäraktion im Gange. Die Lage ist unübersichtlich. Verbleiben Sie daher an einem sicheren Ort. Verfolgen Sie die Medienberichte“, heißt es wörtlich. Schon zuvor hatte das Außenministerium dazu aufgerufen, angesichts der Terrorgefahr im Land „stark frequentierte Plätze“ sowie Staats- und Regierungsgebäude und militärische Einrichtungen „möglichst zu meiden“.
Aus dem Außenministerium in Wien hieß es, die Telefone der Beratungshotline „laufen heiß“. „Der Informationsbedarf scheint beträchtlich zu sein“, das Personal sei bereits aufgestockt worden. Auch aus der Türkei würden Österreicher anrufen. Derzeit befinden sich nach Angaben des Außenministeriums rund 3.300 Österreicher in der Türkei, rund 1.700 davon aus Reisegründen. Dabei handelt es sich allerdings nur um jene Personen, die sich auch beim Außenministerium registriert haben.
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