Sturgeon kämpft um EU-Verbleib
Nach dem „Brexit“-Votum gewinnen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland an Fahrt. Ihr Land wolle Mitglied in der Europäischen Union bleiben, sagte die Chefin der Regionalregierung, Nicola Sturgeon. Sie stellte eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands in Aussicht. Gleichzeitig kündigte sie an, das schottische Parlament könnte den „Brexit“ zu blockieren versuchen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
„Natürlich“ werde sie die Abgeordneten ihrer Schottischen Nationalpartei (SNP) im Regionalparlament bitten, dem „Brexit“ die Zustimmung zu verweigern. Fraglich ist allerdings, ob es rechtlich überhaupt der Zustimmung des schottischen Parlaments für den Austritt Großbritanniens aus der EU bedarf. Für einige britische Gesetze ist diese nötig, für andere nicht.
Rechtlich umstritten
„Von einer logischen Perspektive aus gesehen“, finde sie es „schwer zu glauben“, dass die schottische Zustimmung nicht nötig sei, sagte Sturgeon der BBC. Sie gehe aber davon aus, dass die britische Regierung anderer Meinung sei. „Wir müssen schauen, wohin die Diskussion führt“, sagte sie. Der schottische SNP-Abgeordnete Pete Wishart hatte zuvor auf ein Dokument des EU-Ausschusses des britischen Oberhauses verwiesen, das von einer nötigen Zustimmung Schottlands ausgeht.
Der Verfassungsrechtler und Tory-Abgeordnete im schottischen Parlament, Adam Tomkins, widersprach umgehend. Das Regionalparlament habe diese Kompetenz nicht. Der Minister für Schottland der britischen Regierung, David Mundell, sagte, er persönlich glaube nicht, dass Schottland den EU-Austritt blockieren könnte.
Mehrheit der Schotten für Abspaltung
59 Prozent der Schotten sind indes einer Umfrage der Zeitung „Sunday Post“ zufolge nach dem „Brexit“-Votum für ein neues Referendum zur Abspaltung vom Vereinigten Königreich. Beim letzten Referendum zu der Frage im Jahr 2014 waren es nur 45 Prozent. Die Mehrheit war dafür, im Vereinigten Königreich zu bleiben.
Eine Sorge war damals, dass Schottland nicht mehr Teil der Europäischen Union sein könnte. Nachdem Großbritannien am Donnerstag aber mit einer Mehrheit von 52 zu 48 Prozent für einen EU-Austritt votierte, hat sich die Stimmung in Schottland geändert. Dort stimmten 62 Prozent der Bürger für den britischen EU-Verbleib.
„Umstände haben sich dramatisch geändert“
Ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands hält Regierungschefin Sturgeon für „höchst wahrscheinlich“. Das Vereinigte Königreich, für das Schottland 2014 gestimmt habe, „existiert nicht mehr“, sagte Sturgeon der BBC. „Das wird keine Wiederholung des Referendums von 2014“, sagte Sturgeon. „Der Kontext und die Umstände haben sich dramatisch verändert.“ Sollte sich Schottland tatsächlich vom Vereinigten Königreich abspalten, könnte das Land wieder der EU beitreten.
„Schottlands Platz in EU schützen“
Konkret trifft die schottische Regionalregierung Vorbereitungen für ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils von Großbritannien. Die notwendigen rechtlichen Schritte würden jetzt vorbereitet und eigene Gespräche mit der EU aufgenommen, sagte Sturgeon bereits am Samstag bei einer Erklärung vor ihrem Amtssitz in Edinburgh.

APA/AFP/Oli Scarff
Sturgeon kündigte am Samstag vor ihrem Amtssitz in Edinburgh die nächsten Schritte an
„Das Kabinett hat zugestimmt, dass wir umgehend Gespräche mit EU-Institutionen und anderen EU-Mitgliedsstaaten aufnehmen, um alle Möglichkeiten auszuloten, Schottlands Platz in der EU zu schützen“, so Sturgeon. Bereits vor der Abstimmung im Jahr 2014 hatte Schottlands Nationalpartei SNP, die mit absoluter Mehrheit regiert, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für den „Brexit“-Fall ins Gespräch gebracht.
Schottlands Grüne signalisieren Zustimmung
Die SNP hat seit Mai allerdings keine absolute Mehrheit mehr in Edinburgh und müsste Parlamentarier anderer Parteien überzeugen. Die schottischen Grünen signalisierten bereits Zustimmung zu einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum. Ein Referendum sei klar eine Option. Für einen solchen Schritt müsse es aber eine eindeutige Zustimmung in der Öffentlichkeit geben.
Ansatz für ein neuerliches Votum dürfte ein Passus im Programm der SNP sein, in dem es um ein mögliches neues Unabhängigkeitsreferendum geht. Ein solches soll angestrebt werden, wenn sich ein „deutlicher und materieller Wandel“ gegenüber den Rahmenbedingungen der Abstimmung vom September 2014 ergibt, bei der die Schotten noch für den Verbleib im Königreich votierten. Dieser „Wandel“ wäre durch den EU-Austritt mehr als gegeben.
Zwischen Nationalismus und Weltoffenheit
Allerdings ist natürlich noch lange nicht sicher, dass die Schotten bei einem neuerlichen Referendum für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich stimmen würden. Denn ein Ausscheiden aus Großbritannien würde eine neue Landgrenze zu England schaffen - mit allen Folgen für Freizügigkeit und Wirtschaft der Schotten.
Viele Schotten stimmten 2014 gegen die Abspaltung, weil ihnen der Nationalismus suspekt war, den sie hinter der SNP-Kampagne witterten. Doch genau dieser egozentrische Blick nach innen bestimmte in den vergangenen Monaten das „Brexit“-Lager.
Eine der größten Zeitungen im Norden, der sozialdemokratische „Daily Record“, schrieb am Wochenende, Sturgeon habe „kaum eine andere Wahl“, als ein erneutes Referendum auszurufen. 2014 hatte die Zeitung eher für die Union mit England, Wales und Nordirland geworben. Jetzt steht im Leitartikel, das „Brexit“-Votum mache die Unabhängigkeit zur „positiven, weltoffenen Option“ für Schottland.
Links: