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Ernüchterung für Austrittsbefürworter

Die „Kontrolle“ über das eigene Land wiedererlangen - das war der zentrale Wahlkampfslogan der „Brexit“-Befürworter. Doch für alle jene, die UKIP-Chef Nigel Farage und dem Tory Boris Johnson glaubten, ist der Jubel kurz: Denn die Anführer der EU-Austrittsbewegung verloren nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses keine Zeit, um sich von ihren eigenen Versprechen zu distanzieren.

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Das Endergebnis war noch keine vier Stunden alt, da relativierte der Chef der rechtspopulistischen UK Independence Party (UKIP) Nigel Farage am Freitag bereits eines der zentralen Versprechen der „Leave“-Kampagne: In der ITV-Sendung „Good Morning Britain“ sagte der UKIP-Politiker, er könne nicht garantieren, dass wie von den „Brexit“-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS gingen.

„Mein eigenes Ding“

„Das war einer der Fehler, den die ‚Leave‘-Kampagne gemacht hat“, sagte der EU-Parlamentarier am Freitag. Er selbst habe damit nicht geworben. „Sie müssen verstehen, dass ich von der Kampagne ausgeschlossen wurde und ich, wie immer, mein eigenes Ding gemacht habe.“ Freilich hatte Farage im Wahlkampf mitbekommen, dass das „Leave“-Lager damit warb - und vor der Abstimmung nie ein Wort darüber verloren, dass dieses Versprechen unhaltbar sein könnte.

Zurückrudern bei Zuwanderung

Am Samstag ruderte der konservative Austrittsbefürworter, der britische Abgeordnete Daniel Hannan, im wichtigsten - und wohl ausschlaggebenden - Themenfeld, der Zuwanderung, zurück. Gegenüber der BBC sagte Hannan wörtlich: „Ehrlich gesagt, wenn Leute, die abgestimmt haben, glauben, dass es jetzt keinerlei Zuwanderung mehr von der EU geben wird, dann werden sie enttäuscht sein.“

Noch am 1. Juni hatte Johnson gesagt, dass das „automatische Recht für alle EU-Bürger, in Großbritannien zu leben und zu arbeiten, nach einem Votum für den Austritt enden wird“. Die „Leave“-Kampagne hatte stattdessen ein hartes australisches Zuwanderungsmodell auch für EU-Bürger versprochen.

Wütende Reaktionen

Die Reaktionen in den Sozialen Netzwerken auf Hannans Aussagen von enttäuschten „Remain“-Befürwortern ließen nicht auf sich warten: Hannan „wusste vor Donnerstag, wie sein Einwanderungsversprechen verstanden wird“, so ein Twitter-User.

Ein anderer resümierte: „Nachdem Nigel Farage das NHS-Versprechen der ‚Leave‘-Kampagne verworfen hat und Dan Hannan sagt, dass die Zuwanderung nicht aufhören wird, erkennt England, dass es für eine gekrümmte Banane gestimmt hat“, spielt der User auf die umstrittene, später zurückgezogene EU-Vorschrift zur Bananenkrümmung an.

Unter den Hashtags „#Bregret“ (Mischung aus Britain und regret = Bedauern) und „#WhatHaveWeDone“ (Was haben wir nur gemacht) wurde das Ergebnis auf Twitter am Wochenende weiter debattiert. Es waren allerdings mehr EU-Befürworter, die ihrem Unverständnis und Ärger über die „Leave“-Wähler Ausdruck verliehen, nicht tatsächlich reumütige „Brexit“-Wähler.

Johnson: Keine Eile

Der Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, der nun als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge von David Cameron als Chef der konservativen Torys und als Premier gilt, betonte seinerseits bei seiner ersten Rede Freitagvormittag, dass es keinen Grund zur Eile beim EU-Austritt gebe. Er sehe auch keine Notwendigkeit, von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages Gebrauch zu machen, so Johnson, einer der führenden Köpfe der „Brexit“-Kampagne. Dieser würde den Abschluss von Austrittsverhandlungen binnen zwei Jahren nötig machen.

Ähnlich äußerte sich Matthew Elliott, Chef der „Brexit“-Kampagne. Er will vor einem solchen offiziellen Schreiben inoffizielle Verhandlungen mit der EU, etwa über den Zugang zum Binnenmarkt und den EU-Pass für Finanzinstitute, der ungehinderten Zugang zu den EU-Kapitalmärkten ermöglicht. „Am besten ist es, wenn sich der Staub den Sommer über legen kann und während dieser Zeit informelle Verhandlungen mit anderen Ländern stattfinden. Wir glauben nicht, dass es die Notwendigkeit gibt, sich schnell auf Artikel 50 zu berufen.“

Während der Wahlkampagne hatten Johnson und Co. freilich bei all ihren Auftritten den Eindruck vermittelt, jeder weitere Tag in der EU sei ein verlorener Tag für das Vereinigte Königreich. Es zeigt sich: Nach der Abstimmung ist nicht vor der Abstimmung - zumindest, was die Versprechen der „Brexit“-Befürworter angeht.

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