„Keine Hängepartie“
Nach dem ersten Schockmoment nach dem Pro-„Brexit“-Ergebnis beim britischen Referendum sucht Brüssel nach einer Linie, wie es weitergehen soll. Den Anfang machten bereits am Samstag sechs EU-Außenminister aus Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg - auf Initiative des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier.
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Diese Staaten hatten 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Vorläuferorganisation der EU, gegründet. Nun erhöhen sie den Druck auf London, rasch mit den Austrittsverhandlungen zu beginnen: „Dieser Prozess sollte so bald wie möglich losgehen, dass wir nicht in eine lange Hängepartie geraten“, forderte Steinmeier nach dem Außenministertreffen. „Es muss uns jetzt die Möglichkeit gegeben werden, dass wir uns mit der Zukunft Europas beschäftigen.“
Schon im Vorfeld des Treffens hatte er für die EU geworben: "Wir lassen uns dieses Europa nicht nehmen. Er warnte zudem vor Panikreaktionen: „Das ist jetzt eine Situation, die weder Hysterie noch Schockstarre erlaubt.“ Die EU dürfe jetzt nicht so tun, „als seien alle Antworten schon bereit“.
Kritik an Treffen
Aus anderen Ländern, die bei dem Sechsertreffen nicht dabei waren, gab es Kritik. Es werde in den nächsten Tagen „viele unterschiedliche Gespräche“ geben, rechtfertigte sich Steinmeier: „Man muss sich jetzt ein wenig zuhören und abtasten, wo die Erwartungen und wie groß die Spielräume sind.“
Auch Steinmeiers französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault bekräftigte die Position der EU, dass die Austrittsgespräche rasch über die Bühne gehen müssten. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hoffte, „dass wir jetzt kein Katz-und-Maus-Spiel spielen“.
Merkel verlangt konkreten Fahrplan
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verlangte am Samstag von London Auskunft über das weitere Vorgehen im Austrittsprozess Großbritanniens. Großbritannien müsse nun sagen, wie es sich die Beziehungen zur EU weiter vorstelle, sagte Merkel. Die EU müsse sich dann auch vor dem Hintergrund der eigenen Interessen mit den Konsequenzen aus dem EU-Austritt der Briten befassen. Merkel sagte, den Menschen in den verbleibenden 27 EU-Staaten müsse der Mehrwert der Europäischen Union deutlich gemacht werden.
Das Tempo der Austrittsverhandlungen ist für Merkel dagegen nicht entscheidend. „Ehrlich gesagt soll es nicht ewig dauern, das ist richtig, aber ich würde mich auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen“, sagte Merkel nach der Klausur von CDU und CSU in Potsdam.
Das Problem mit Artikel 50
Der Nachteil für die EU ist allerdings der Artikel 50 im Lissabon-Vertrag. Der sieht vor, dass ein Land, das aus der EU austreten will, die Union darüber informieren muss. Ab diesem Zeitpunkt müssen die Verhandlungen innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen werden - eine Verlängerung würde die Zustimmung aller EU-Mitglieder verlangen.
Ein Referendum allein genüge Experten zufolge dafür nicht. Großbritannien habe trotz des Referendums keine gesetzliche Verpflichtung, rasch einen Austrittsantrag zu stellen. Es gebe keinen legalen Weg, ein Land aus der EU hinauszuwerfen, sagte Pieter Cleppe vom britischen Thinktank Open Europe gegenüber dem „EU-Observer“. Die EU könne nichts anderes tun, als politischen Druck auszuüben.
„Primärrecht nicht ändern“
Die Logik hinter einer Verzögerung des Austrittsantrags seitens Großbritanniens liege darin, einer neuen Regierung mehr Zeit für die Ausarbeitung einer Verhandlungsposition zu geben. „Die ,Leave’-Seite (die ,Brexit’-Befürworter, Anm.) hat niemals über ihre Verhandlungsposition nachgedacht“, so Rechtsexperte Steve Peers.
An den EU-Verträgen wird sich aber voraussichtlich so schnell nichts ändern. Schon zuvor gab es Rufe etwa vonseiten des französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy für eine weitreichende Neugründung der EU. Doch EU-Kommissar Günther Oettinger winkte eine allzu schnelle Änderung der EU-Verträge ab: „In den nächsten vier Jahren sehe ich keine Chance, das Primärrecht zu ändern“, so Oettinger. „Das wäre für Rechtspopulisten eine Steilvorlage, um das Projekt Europa zu demontieren.“
Brüssel wütend
Der Unmut mit London hat auch mit den Entwicklungen nach dem „Brexit“-Ergebnis zu tun. Das Fass buchstäblich zum Überlaufen brachte die Ankündigung des britischen Premiers David Cameron, dass er zurücktrete, aber erst im Oktober. Die „Brexit“-Verhandlungen wolle er seinem Nachfolger überlassen. Berichten zufolge soll EU-Parlamentspräsident Martin Schulz „weiß vor Wut“ gewesen sein. Das sei „skandalös“, sagte Schulz noch am Freitag.

Reuters/Eric Vida
Schulz bezeichnete Camerons Verhalten als „skandalös“
Damit werde „zum wiederholten Male ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der Konservativen Partei Großbritanniens“. Bereits als Cameron vor drei Jahren das Referendum angekündigt hatte, um parteiinterne Gegner ruhigzustellen, habe er einen „ganzen Kontinent verhaftet für seine taktischen Verhandlungen“, sagte der EU-Parlamentspräsident.
Auch ein Großteil der EU-Parlamentarier forderte Camerons sofortigen Rücktritt. Das sei seine Pflicht, nach der „verrückten Idee aus innenpolitischen Gründen ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft abzuhalten“, sagte etwa der sozialdemokratische Fraktionschef Gianni Pittella.
Juncker sieht nicht Ende der EU
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betonte jedenfalls, dass „Brexit“ nicht das Ende der EU bedeute. Er befürchtet aber weitere Austrittsreferenden in anderen Ländern. Derartiges sei nicht auszuschließen, „da Populisten in der Regel keine Gelegenheit auslassen, um mit viel Lärm für ihre Anti-Europa-Politik zu werben“, sagte Juncker gegenüber der „Bild“ (Samstag-Ausgabe). Allerdings könnten die Auswirkungen des britischen Referendums „solch plumper Hetze“ schnell ein Ende bereiten. Für Deutschland erwartet Juncker jedenfalls eine „zentrale, wenn nicht sogar noch wichtigere Rolle in der EU“.
Aufseiten der EU ist indes klar, wer die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien führen wird. Die „Brexit“-Taskforce wird der belgische Topdiplomat Didier Seeuws führen, berichteten Diplomaten am Samstag in Brüssel. Er war bis Ende 2014 engster Mitarbeiter des damaligen EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy.
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