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EU-Türkei-Abkommen als Wendepunkt

In Zweierreihe geht eine Gruppe Kinder jeden Morgen den Hafen von Chios entlang, in der Hand Stift und Schreibblock, vorbei an Einheimischen und Touristen, die in den Cafes an der Kaimauer sitzen. Die Kinder gehen vom Flüchtlingslager Souda zu einer Schule, die freiwillige Helfer seit einigen Wochen für sie organisieren.

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Boote mit Asylsuchenden kommen bereits seit Jahren von der in Sichtweite gelegenen türkischen Küste auf Chios an - aber nie waren es so viele wie in den vergangenen zwölf Monaten. Alleine von Mai bis November 2015 kamen 30.000 Flüchtlinge auf der 50.000-Einwohner-Insel in der griechischen Ägäis an.

2.600 Flüchtlinge warten auf Chios

Die Menschen auf Chios seien sehr lange mitfühlend und hilfsbereit gewesen, sagt Fotis Vlachos. Er organisiert die Flüchtlingshilfe auf der Insel für die griechische Nichtregierungsorganisation (NGO) Apostoli, eine Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe. ORF.at wurde von der Diakonie Katastrophenhilfe eingeladen, sich ein Bild von der Situation auf Chios zu machen.

„Die Bewohner von Chios haben Schreckliches direkt vor ihren Häusern gesehen - und sie haben geholfen“, sagt Vlachos, doch die Stimmung sei am Kippen. Seit dem EU-Türkei-Abkommen hätten die Menschen das Vertrauen in die Politik endgültig verloren.

Karte zeigt die griechische Insel Chios und den türkischen Ort Cesme

APA/ORF.at

Die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die seit dem 20. März in Griechenland ankommen, in die Türkei zurückgebracht werden. Jeder Asylsuchende hat allerdings das Recht auf eine Einzelfallprüfung in Griechenland. Genau hier liegt das Problem: Seit dem 20. März sind Tausende Flüchtlinge auf griechischen Inseln gestrandet. Auf Chios warten über 2.600 auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Die Spannungen steigen - bei den Flüchtlingen ebenso wie bei der lokalen Bevölkerung.

„Hotspot“ wurde zu Internierungslager

Erst vor Kurzem wurde die Zufahrtsstraße zum Flüchtlingslager Vial von Bewohnern der umliegenden Dörfer blockiert. Sie wollten verhindern, dass weitere Container dort aufgestellt werden. Vial ist einer der sogenannten „Hotspots“ an den EU-Außengrenzen, an denen ankommende Flüchtlinge registriert werden und von dort umverteilt werden sollten. Zwei weitere dieser Zentren gibt es auf den Inseln Lesbos und Samos. Mittlerweile sind sie zu überfüllten Auffanglager geworden.

„Durch den mangelhaften Polizeischutz, die Überfüllung und die miserablen Hygienezustände entsteht in den Lagern, die mit Stacheldraht umzäunt sind, eine von Chaos und Unsicherheit geprägte Atmosphäre“, schrieb Human Rights Watch Anfang Juni in einem Bericht über die griechischen „Hotspots“.

Eindrücke von der griechischen Insel Chios

ORF.at/Romana Beer

Ein Mann trägt sein Baby vor dem Bauch und Wasserflaschen in der Hand

Ein bis zwei Tage sollte der Aufenthalt für die Flüchtlinge in den „Hotspots“ dauern. Seitdem das Abkommen der EU mit der Türkei in Kraft getreten ist, sind sie allerdings zum Warten hinter meterhohem Zaun mit Stacheldraht verurteilt. In den ersten 25 Tagen nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals am 20. März waren die Flüchtlinge in Vial eingeschlossen. Weil die griechischen Gesetze eine längere Internierung nicht erlauben, ist das Eingangstor nun wieder geöffnet. Die Insel verlassen dürfen die Menschen allerdings nicht.

„Vor dem Krieg hatten wir alles“

Schon beim Eingang zum „Hotspot“ spielen überall Kinder, eine Frau schiebt ein Mädchen im Rollstuhl. Vor einem Versorgungscontainer wartet eine kleine Gruppe Männer. Die Menschen in Vial tragen grüne Armbänder, die sie nicht abnehmen dürfen. Bereits am frühen Vormittag brennt die Sonne vom Himmel. In den nächsten Monaten wird es im „Hotspot“, acht Kilometer von der Küste entfernt, noch heißer werden.

Im schmalen Schatten vor einem Zelt sitzt eine Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht. Seine Mutter habe seit Tagen ein starkes Stechen im Bauch, sagt ein junger Bursche namens Mohammad. „Wir warten auf einen Arzt.“ Ob bald einer kommt? „Das wissen wir nicht.“ Mohammad kam mit seine Mutter und seiner Schwester vor sechs Wochen mit einem Schlepperboot von der Türkei nach Chios, sein Vater ist in Deutschland. „Wir wissen nichts. Nicht wann wir hier herauskommen und nicht wo wir hinkönnen. Es heißt immer, morgen, morgen, morgen.“ In ihrer Heimatstadt Aleppo in Syrien habe es jeden Tag Kämpfe gegeben, erzählt Mohammad, „aber vor dem Krieg war es dort sehr schön, wir hatten alles“.

„Frag Allah“

„Vial ist ein Gefängnis“, sagt Salmai. Zu Hause, in Afghanistan, sei zwar sein Leben in Gefahr gewesen, aber wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, wäre er nicht geflüchtet. „Zu Hause zu sterben wäre besser als hier. Hier sterben wir langsam, jeden Tag ein bisschen.“

Eindrücke von der griechischen Insel Chios

ORF.at/Romana Beer

Der „Hotspot“ Vial liegt im heißen und trockenen Inselinneren

Die Stimmung im „Hotspot“ ist zunehmend gereizt. Viele Flüchtlinge machen jene für die täglichen Probleme verantwortlich, die sie jeden Tag sehen: NGO-Vertreter, Freiwillige, Polizei und Militär. Ein junger Bursche aus Afghanistan beschwert sich, dass das Wasser in den Toiletten gerade wieder nicht funktioniert. Er wohne im Nachbarort, entgegnet ein griechischer Armeevertreter, und bei ihm zu Hause gebe es auch nur alle zwei Tage Wasser. Das habe nichts mit dem Flüchtlingslager zu tun, sondern sei ein generelles Problem der griechischen Inseln. „Warum?“, fragt der Afghane. „Frag Allah“, entgegnet der Grieche.

„Die Probleme begannen mit dem 20. März“

Nicht nur die Flüchtlinge, auch die Bewohner von Ververato, einem Dorf in unmittelbarer Nähe des „Hotspots“, sind zunehmend frustriert. Einer von ihnen, Babis Lolo, kennt Vial besonders gut – der Oberstleutnant der griechischen Armee leitete den „Hotspot“, als dieser im Februar öffnete. Die Flüchtlinge bräuchten Arbeit, damit sie was zu tun haben und Geld verdienen, so Lolo, „wenn wir keine Arbeit hätten, würden wir nach einiger Zeit vielleicht auch auf dumme Gedanken kommen“. Andererseits, überlegt er, sei es für die Bewohner von Chios wegen der Wirtschaftskrise ohnehin zunehmend schwierig, selbst Arbeit und ein gutes Einkommen zu haben.

Die Menschen im Dorf helfen den Flüchtlingen gerne, sagt Frater Meletios, der orthodoxe Priester von Ververato: „Diese Menschen waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie brauchen sichere Orte.“ Die Probleme hätten erst mit dem 20. März begonnen, als Vial zum Internierungslager wurde. Einige, besonders die Jungen, würden zu viel trinken, „dann werden sie aggressiv“.

Asylverfahren? „Es ist kompliziert“

Seit dem 20. März hat sich die Situation stark verändert, sagt auch Joseph Kuper, Leiter des UNHCR-Büros auf Chios. Ein Lager wie Souda sei für ein oder zwei Nächte gut, aber nicht für länger. Der „Hotspot“ Vial sei überhaupt ein Problem: mitten im nichts und ohne Aufenthalts- und Gemeinschaftsräume. Die Asylverfahren würden einfach viel zu lange dauern.

Eindrücke von der griechischen Insel Chios

ORF.at/Romana Beer

Das Flüchtlingslager Souda am Rande von Chios-Stadt

Auf die Frage, warum sie nicht durch mehr Personal beschleunigt würden, hat auch Kuper keine eindeutige Antwort. Griechenland sei mitten in einer Wirtschaftskrise, überall gäbe es Kürzungen und Krisen innerhalb von Krisen. Es sei kompliziert. Sicher sei nur, dass es für die Flüchtlinge besser wäre, wenn man ihnen sagte, „du bist Nummer 350, du musst noch vier Monate warten“, als immer nur „hab Geduld, hab Geduld“.

„Alle wollen weg“

Wie in Vial laufen auch im Flüchtlingslager Souda, das vom UNHCR organisiert wird, überall Kinder umher. Während 2015 großteils Männer Asyl in der EU gesucht hatten, sind es nun hauptsächlich Familien und unbegleitete Minderjährige. Seit Monaten bringen Freiwillige Essen, Kleidung und Kinderwägen. Die Zivilgesellschaft auf Chios ist stark, aber an ihren Grenzen.

Achmed flüchtete mit seiner Frau, den drei Söhnen und seinen über 80-jährigen Eltern aus der umkämpften syrischen Stadt Aleppo über die Türkei in die EU. Wie es weitergeht, weiß der Elektroingenieur nicht. Die Menschen in Souda seien verzweifelt, „alle wollen weg“. „Wir sind Flüchtlinge, aber wir sind keine schlechten Menschen. Wir sind nicht kriminell. Bitte sagen Sie das den Menschen in Österreich.“

Eindrücke von der griechischen Insel Chios

ORF.at/Romana Beer

Achmed lebt mit seiner Familie seit zwei Monaten im Camp Souda

Die drei Buben waren seit zwei Jahren nicht mehr in der Schule. Achmed und seine Frau versuchen sie so gut wie möglich selbst zu unterrichten. Seit einigen Wochen können sie zumindest die Schule für Flüchtlingskinder in Chios-Stadt besuchen, die von freiwilligen Helfern gegründet wurde. „Aber das reicht nicht für ihre Zukunft“, sagt Achmed, dessen Schwiegervater in Österreich lebt.

Er wisse, dass auf Chios alle helfen wollen, „aber vielleicht haben sie einfach nicht die nötige Macht“. Von denen, die die Macht haben - der griechischen Regierung und der EU -, wünscht Achmed sich nur eines: „Die Politiker sollen einfach ihre Arbeit machen, damit wir endlich ein Asylverfahren bekommen.“ Drei Tage nach dem Gespräch mit Achmed kam es im Camp Souda zu Ausschreitungen. Flüchtlinge zündeten Zelte und Mülltonnen an, mehrere wurden festgenommen.

Romana Beer, ORF.at, aus Chios

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