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Auch Großbritannien ist keine Insel

Seit Premier David Cameron das Referendum über den britischen EU-Austritt am 23. Juni angekündigt hat, rauchen auf der Insel die Köpfe über der Frage, welche Folgen ein „Brexit“ auf die Wirtschaft haben wird. Befürworter und Gegner rüsten sich dabei mit allerlei Argumenten.

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Anhänger eines „Brexit“, etwa die Initiative Vote Leave, wittern im Falle eines Austritts Morgenluft für die Wirtschaft. Sie hoffen auf ein flexibleres, handlungsfähigeres und souveränes Großbritannien, das für sich selbst verhandeln könnte. Kompromissdeals, von denen zwar französischer Camembert profitiert, nicht aber britischer Cheddar, würden damit der Vergangenheit angehören.

Gegen Regeln und Gelder

Die Abschaffung lästiger und teurer EU-Regeln soll Unternehmen entlasten und neuen Schwung verleihen. Einen dadurch ermöglichten Einwanderungsstopp verbindet man mit mehr Arbeitsplätzen. Außerdem würde ein EU-Austritt auch einen Schlussstrich unter die Beitragszahlungen ziehen, die jedes Jahr variieren, im Jahr 2015 aber mit abgezogenem Britenrabatt mit rund 13 Milliarden Pfund (rund 16 Mrd. Euro) zu Buche schlugen.

Laut einem Zusammenschluss von acht Ökonomen („Economists for Brexit“), dem unter anderem der ehemalige Thatcher-Berater Patrick Minford angehört, würde die britische Wirtschaft dank Deregulierung nach einem Austritt sogar in neuer Blüte stehen. Und im „Daily Telegraph“ haben sich 300 Geschäftsleute für einen „Brexit“ ausgesprochen. Die Brüsseler Bürokratie hemme jeden einzelnen der 5,4 Millionen britischen Betriebe, obwohl nur eine kleine Minderheit wirklich Geschäfte mit der EU mache.

Harte Worte ...

Also alles ganz einfach? Nicht wenn es nach den Gegnern geht. Eine breite Front für den Verbleib, etwa die Kampagne Britain Stronger in Europe, ist nämlich anderer Meinung. Die meisten großen Institutionen haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie in einem „Brexit“ den Sargnagel für die Wirtschaft sehen.

Nationale und internationale Institutionen von der Bank of London über die G-20 bis hin zum Londoner Finanzdistrikt reihten sich in die Riege der „Warner“ ein. Auch der Konsens unter Ökonomen ist, dass Großbritannien von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat. Von den alljährlich von der „Financial Times“ befragten hundert Wirtschaftswissenschaftlern war im vergangenen Jahr nur ein Zehntel der Meinung, dass man von einem „Brexit“ profitieren würde.

Der britische Premier David Cameron

APA/AFP/Stefan Rousseau

Premier David Cameron wirbt für einen Verbleib

Konsens ist, dass ein „Brexit“ allein aufgrund der drohenden Unsicherheit einen schweren Schock bedeuten würde. Das Land würde ärmer, die Wirtschaft instabiler, Jobs stünden auf dem Spiel. Der britische Gewerkschaftsbund Trades Union Congress (TUC) sieht gar vier Millionen Arbeitsplätze in Gefahr. Analysten warnen vor turbulenten Aktienmärkten, schwindenden Investitionen und Handel, Kapitalabwanderungen sowie einem Pfund unter Druck. Außerdem wackle Londons Stellung als führendes Finanzzentrum.

... nackte Zahlen

Doch nicht nur Worte, sondern auch nackte Zahlen sollen den Briten den Austritt wenig reizvoll erscheinen lassen. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) würde sich ein „Brexit“ wie eine massive Steuererhöhung auswirken. Letztlich entspräche er dem Verlust eines Monatsgehalts über vier Jahre gerechnet.

EU-Exporte und -Importe

Laut dem britischen Unterhaus gingen 2014 45 Prozent der britischen Exporte von Gütern und Dienstleistungen an die Union, laut der Faktencheck-Initiative „Full Fact“ machen Exporte 13 Prozent der britischen Wirtschaft aus. Die Importe lagen einer Studie des britischen Unterhauses zufolge 2014 bei 53 Prozent.

Auch Tories-Finanzminister George Osborne veröffentlichte kürzlich eine 200-Seiten-Prognose, laut der ein EU-Austritt die Wirtschaft bis 2030 um 3,4 bis 9,5 Prozent schrumpfen lassen würde. Jeder Familie würden damit jährlich zwischen 2.600 und 5.200 Pfund (ca. 3.270 und 6.500 Euro) entgehen.

Alles eine Frage des Abkommens

Das Finanzministerium hat für diese Prognose drei mögliche Deals mit dem Rest der Welt durchgerechnet. Das von den „Economists for Brexit“ gelobte WHO-Modell wird als das destruktivste identifiziert.

Ganz davon abgesehen, dass sowohl Pro- als auch Kontra-Perspektiven der Komplexität der Realität kaum gerecht werden, berührt die Methode der letztgenannten Prognose einen Knackpunkt: Wie positiv oder negativ sich die Auswirkungen eines „Brexit“ entfalten könnten, hängt fast ausschließlich von zwei Punkten ab: einerseits den im Nachhinein abgeschlossenen Deals zwischen Brüssel und London sowie London und dem Rest der Welt, andererseits den innerhalb Großbritanniens gesetzten Schritten.

London, Zürich, Oslo?

Wie ginge es im Falle eines Austritts also weiter? Immer wieder wird ein Deal a la Norwegen als Vorbild für eine mögliche künftige Allianz mit der EU genannt. Der Staat ist nicht Teil der Union, nimmt aber durch Vereinbarungen an den größten Brocken des europäischen Binnenmarktes teil.

Boris Johnson

APA/AFP/Oli Scarff

Der Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson gibt sich als Kämpfer für den „Brexit“

Was allerdings weniger bekannt ist, ist, dass Norwegen und auch die Schweiz dafür Tribute an Brüssel zollen müssen. Norwegen zahlt als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) hohe Beiträge und muss EU-Regeln übernehmen, ohne Mitspracherecht zu haben. Außerdem muss das Land mit kleinen Einschränkungen die Arbeitsmarktfreiheit akzeptieren.

Das gleiche Schicksal könnte Großbritannien ereilen. Somit wäre nicht nur der Kampf gegen die von vielen „Brexit“-Gegnern ungeliebte Migration, sondern auch gegen den EU-Regelapparat von vornherein verloren. Die Veränderung bliebe kosmetischer Natur. Im Übrigen bezweifelt ein großer Teil der Analysten, dass die EU Großbritannien auch bei anderen Post-„Brexit“-Deals ohne Anerkennung der Arbeitsmarktfreiheit davonkommen lassen würde.

Wider die Rosinenpicker

Das Modell Schweiz, also bilaterale Verhandlungen zum Zugang zu einzelnen Bereichen des Binnenmarktes, dürfte wiederum für Brüssel ein wenig gangbarer Weg sein. Denn mit einer Zustimmung zu einem solchen Deal würde sich die Union ihre eigene Grube schaufeln, indem man sich einen gefährlichen Präzedenzfall schafft, der auch andere austrittswillige EU-Staaten zum Rosinenpicken einladen würde.

Ähnlich verhält es sich mit einem Freihandelsabkommen, dessen Konditionen vollkommen offen wären. Damit könnten etwa laut dem proeuropäischen Thinktank Centre of European Reform die Zölle bis auf null gedrückt werden, die EU würde den Briten allerdings im Gegenzug mit ziemlicher Sicherheit gesetzliche Bestimmungen oktroyieren.

Dabei ginge es um Arbeiterschutz, Gesundheit und Sicherheit und damit um viele Gesetze, die EU-Skeptiker eigentlich loswerden wollen. Der Thinktank sieht darin das gangbarste Modell, doch auch hier scheint es politisch unwahrscheinlich, dass die EU es Großbritannien allzu leicht machen würde.

Der Weg nach Westen

Unter anderem besteht für London auch noch die Option, ohne Spezialvereinbarungen unter den von der Welthandelsorganisation (WTO) festgelegten Konditionen zu handeln. Das Finanzministerium hat diese Option, unter anderem wegen Zöllen, als schädlichste Variante für das Land identifiziert. Für „Economists for Brexit“ ist es das einträglichste.

US-Präsident Barack Obama

APA/AFP/Justin Tallis

US-Präsident Obama dämpfte bei seinem Besuch in London die Hoffnung auf einen schnellen Post-„Brexit“-Deal zwischen den USA und Großbritannien

Und natürlich bestünde die Möglichkeit, sich hauptsächlich anderen Märkten wie den USA oder Kanada zuzuwenden und mit diesen Freihandelsabkommen zu schließen. Hemmschuh hierbei ist der politische Verhandlungsaufwand. Noch-US-Präsident Barack Obama hat bei seinem Besuch in London bereits gewarnt, dass sich Großbritannien beim Schmieden eines neuen Deals am Ende der Schlange anstellen müsse. Offen bleibt, was der nächste Präsident der USA dazu sagt.

Nur Feilschen ist fix

Ob eines der oben beschriebenen, keines oder ein vollkommen anderes Abkommen kommt, ist derzeit allerdings - wie so gut wie jede andere Post-„Brexit“-Annahme - Spekulation. Die Gestaltung eines Deals wäre vor allem auch Sache der Politik. Gerade wegen dieses hohen Grads an Unsicherheit haben so viele Institutionen Warnungen vor einem „Brexit“ ausgesprochen. In den Augen vieler Analysten ist es gerade diese Unsicherheit, die Investitionen, Währung, Vertrauen und damit auch die Wirtschaft nachhaltig erschüttern könnte.

Klar ist derzeit nur, dass kaum verbindliche Vorhersagen über die Auswirkungen eines „Brexits“ getroffen werden können. Besonders konkrete Zahlen sind mit Misstrauen zu betrachten - dafür handelt es sich um eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten. Zu viele Fälle können, müssen aber nicht eintreten, zu viel hängt davon ab, wie welche Regierungen in London, Brüssel und auch den Drittstaaten handeln und verhandeln würde. Fix dürfte bei einem „Brexit“ wohl maximal langes Feilschen um neue Deals sein.

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