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„Patriarchat verschwindet nicht einfach“

Mächtige Frauengestalten haben die Geschichte des modernen Indien geprägt: Kein indischer Premierminister war so einflussreich wie Indira Gandhi. Die in Italien geborene Sonja Gandhi führt als Witwe des ermordeten Rajiv Gandhi die oppositionelle Kongresspartei. Und im Bundesstaat Westbengalen ist Langzeitregierungschefin Mamata Banerjee derzeit eine der gefährlichsten Widersacherinnen des konservativ-nationalistischen Premiers Narendra Modi.

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Trotzdem - oder gerade deshalb - stoßen Frauen in dem riesigen Land auf mehr „gläserne Decken“ als in den meisten anderen Ländern der Welt. Vor allem aber sind viele von ihnen tagtäglich - sexuellen - Übergriffen, Gewalt und Mord ausgeliefert. Und ein großer Teil der Gesellschaft duldet das zumindest stillschweigend.

Riesige soziale Kluft

Dahinter stecken soziale und religiöse Gegensätze - insbesondere die Haltung gegenüber den Dalits, den Kastenlosen, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen. Frauen dieser meist in größter Armut lebenden Bevölkerungsgruppe sind die hauptsächlichen Opfer von Männern - die wiederum selbst oft höheren Kasten angehören und in vielen Fällen ungestraft davonkommen.

Immer wieder ordnen gerade in Dörfern auf dem Land nicht gewählte Vorsteher eine Gruppenvergewaltigung oder sogar die Ermordung von Frauen an, die außerhalb ihrer Kaste oder ihrer Religion Beziehungen unterhalten oder anderweitig soziale Normen verletzen.

frauen protestieren in Neu Delhi auf der Straße

Reuters/Anindito Mukherjee

Frauenaktivistinnen protestieren gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe. Hier im Bild: eine Demonstration der All India Democratic Women’s Association Ende Februar in Neu-Delhi.

Hardcore-Patriarchat

Zu den Gegensätzen zwischen Arm und Reich, Kasten und Volksgruppen kommen aber vor allem die zutiefst patriarchalen Strukturen, die zu einem tief sitzenden Misstrauen gegen Frauen führen, wie die führende indische Feministin und Anwältin Flavia Agnes zuletzt im Interview mit dem ORF betonte: „Sogar die eigenen Eltern misstrauen den jungen Mädchen. Sie drängen sie, jung zu heiraten. Die sexuelle Kontrolle ist sehr stark. Selbst bei Gewalt in der Familie sagt man den Frauen dauernd, dass sie sich anpassen sollen. Das Patriarchat ist sehr stark bei uns.“

Säureopfer organisieren sich

Doch immer öfter wehren sich Frauen gegen ihre oft gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung - und organisieren ihren Widerstand zusehends: So gehen die Opfer von Säureattacken nun an die Öffentlichkeit. Hunderte Frauen werden jedes Jahr durch Säure schwer verletzt. Die Täter rächen sich zumeist für einen zurückgewiesenen Annäherungsversuch.

Die Frauen-NGO Stop Acid Attacks wird von Laxmi Agarval geführt, die nach einer Attacke vor zehn Jahren als Erste mit ihrem Gesicht an die Öffentlichkeit trat. Früher habe sich niemand um die Opfer gekümmert, so Laxmi, die als 15-Jährige von einem 32-jährigen Mann mit Säure übergossen wurde, nachdem sie seine Avancen zurückgewiesen hatte. Die Opfer hätten sich vielmehr „zurückgezogen und sind weinend zu Hause geblieben. Das ist genau, was die Täter wollen“.

„Niemand hat sich um die Opfer gekümmert“

Öffentlich sei früher nur bekanntgeworden, dass eine Säureattacke stattfand. „Aber was weiter passiert ist, darum hat sich niemand gekümmert. Niemand hat sich um die Opfer gekümmert“, sagt Laxmi. Bis heute ist die Ansicht weit verbreitet, Männer hätten ein „Recht“, sich gegen die Zurückweisung einer Frau zu „wehren“.

Hungerstreik und Gang vor Höchstgericht

Stop-Acid-Attacks-Aktivistinnen setzten mit einem Hungerstreik durch, dass die Strafen hinaufgesetzt wurden. Und das indische Höchstgericht zwang die Politik, den Verkauf von Säuren drastisch einzuschränken. In einem geförderten Kaffeehaus unweit des Taj Mahal, eines der bekanntesten Touristenziele Indiens, erhalten Säureopfer Arbeit, um zurück ins Leben zu finden.

Laxmi selbst, die heute auch als TV-Moderatorin auftritt, hat mehrere Operationen hinter sich. In ihrem Gesicht und am ganzen Körper sind tiefe Narben von dem Angriff geblieben. Trotzdem arbeitete sie neben ihrer TV-Show auch als Model für eine Modelinie. Sie will damit auch andere Säureopfer ermuntern, mit ihrer Geschichte bewusst an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann, so hofft sie, werde das Bewusstsein steigen, und es werde schwieriger, die Attacken zu verharmlosen.

Studentin ermordet

Erst kürzlich wurde erneut eine Studentin brutal missbraucht und getötet. Die 30-jährige Frau aus einer niederen Kaste wurde im Bundesstaat Kerala in ihrer Wohnung überfallen und brutal missbraucht. Indische Medien verglichen den Fall mit der brutalen Vergewaltigung einer Studentin in einem Bus in Neu-Delhi Ende 2012, der wochenlang für Proteste und weltweit für Entsetzen gesorgt hatte.

Lockerung der Kastengrenzen

Die Journalistin Manisha Gurav, die selbst bei einem Vergewaltigungsversuch verletzt wurde, betont, dass immer mehr Angriffe auf Frauen zumindest öffentlich bekanntwerden. Das sei ein positives Zeichen. Es zeige, dass sich die attackierten Frauen nicht mehr so oft versteckten.

In den letzten beiden Jahrzehnten gab es mehrere Versuche, die Lage für Frauen, insbesondere jene, die den Kastenlosen angehören, zu verbessern. Die Dalits haben mittlerweile politisch an Bedeutung gewonnen, insbesondere durch die Bahujan Samaj Partei (BSP), die sich als Interessenvertreterin der Dalits und anderer benachteiligter Gesellschaftsgruppen versteht. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh sind sie bei Wahlen oft das Zünglein an der Waage.

Genau diese - wenn auch langsam - wachsende Bedeutung der Kastenlosen ist laut dem Onlinemagazin The Diplomat ein wichtiger Grund für die anhaltende Gewalt gegen Frauen. „Ihr steigendes Gewicht und erhöhte soziale Mobilität gefällt vielen in Indiens höheren Kasten nicht. Sie haben Schwierigkeiten, sie als gleichgestellt zu akzeptieren“, schrieb das Magazin in einer Analyse bereits vor zwei Jahren.

Langer Atem

Die Fortschritte, die es trotz aller Rückschläge gibt, sind vor allem auf die zahlreichen Frauenbewegungen zurückzuführen, die zum Teil seit Jahrzehnten - und oft auf lokaler Ebene - ganz konkret gegen Gewalt und Unterdrückung kämpfen. Auch in der landesweiten Gesetzgebung gab es Verbesserungen. Die derzeitige US-Botschafterin bei der UNO und Expertin für die Region, Isobel Coleman, betonte bereits 2013, Gesetze allein würden nicht reichen. Soziale Einstellungen und kulturelle Praktiken müssten sich ändern - „und das geht nicht über Nacht“, so Coleman gegenüber der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations.

Oder wie es die Frauenrechtlerin Agnes im Interview auf den Punkt bringt: „Das Patriarchat ist einfach so tief verankert, dass es nicht wegen der Frauenbewegung oder wegen einiger Gesetze verschwindet. Aber Frauen nehmen diesen Kampf mittlerweile auf - und das ist sehr positiv.“

Raimund Löw, ORF, aus Mumbai

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