„Niemand glaubt den Zahlen“
Obwohl schon im vergangenen Jahr die Berechnungsmethode für das Wirtschaftswachstum in Indien umgestellt worden ist, gibt es immer noch Kritik daran. Ökonomen halten die Zahlen weiter für fraglich. „Momentan glaubt den Daten leider niemand“, sagte der in Oxford promovierte Wirtschaftswissenschaftler Rajiv Kumar Mitte Februar der dpa. Bis vor wenigen Jahren war Kumar zuerst Chefökonom von CII und später Generalsekretär von FICCI, den größten Wirtschaftsverbänden Indiens.
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Statt wie offiziell erklärt bei 7,5 Prozent dürfte das Wachstum der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens in diesem Finanzjahr eher bei etwa fünf Prozent liegen, schätzte Kumar. Damit wäre Indien zwar nicht mehr die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt - stehe unter den Schwellenländern aber sehr wohl noch glänzend da, sagte Kumar. Denn die Inflation sei unter Kontrolle, das Leistungsbilanzdefizit gesenkt und die Rupie - im Gegensatz etwa zum russischen Rubel oder südafrikanischen Rand - nicht im freien Fall.
„Export geht zurück, Konsum nur schleppend“
Ganz so rosig wie das indische Statistikamt das Bild male, sei es allerdings auch nicht, sagte Kumar. Der Export gehe seit mehreren Monaten zurück, die Banken vergäben nicht viele Kredite, und der Binnenkonsum schleppe sich dahin. Auch die Arbeitslosigkeit sinke nicht - was sie aber bei einem solch rasanten Wachstum tun sollte. „All das ist nicht im Einklang mit den Wirtschaftszahlen, die herausgegeben werden“, sagte Kumar, der auch das Finanz- und das Industrieministerium in Neu-Delhi beriet und heute für die Denkfabrik Centre for Policy Research arbeitet.
Berechnungsgrundlage geändert
Indiens Statistikamt hatte im vergangenen Jahr die Berechnungsgrundlage geändert. Seitdem gilt nicht mehr das Haushaltsjahr 2004/2005 (April bis März) als Bezugsjahr, sondern 2011/2012, wie auch der britische Economist kritisierte. Zudem werden die Marktpreise der Güter und Dienstleistungen anstatt der Produktionskosten der Firmen zur Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) herangezogen.
Dadurch lag Indiens Wachstum plötzlich etwa zwei Prozentpunkte höher - und über dem von China. Das Reich der Mitte hatte seinerseits im September 2015 die Berechnungsregeln verändert und auf internationale Standards umgestellt.
Auch Regierungsberater skeptisch
Selbst der oberste Wirtschaftsberater der indischen Regierung, Arvind Subramanian, gab zu, dass die Zahlen ihn verwirrten. Notenbankchef Raghuram Rajan, einst Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), war von Anfang an skeptisch. Ende Jänner sagte er in Mumbai: „Es gibt Probleme mit der Art und Weise, wie wir unser BIP-Wachstum berechnen.“ Manchmal entstehe Wachstum nur dadurch, dass Menschen in einen anderen Bereich wechselten.
Bei der Ermittlung des Wachstums in der Produktion würden nun nicht wie bisher die Daten von 5.000, sondern von 500.000 Unternehmen herangezogen, sagte Kumar. Darunter seien besonders viele Klein- und Kleinstunternehmen, die nach Angaben der Regierung ein Wachstum von zwölf Prozent haben, während die größeren fast stagnieren. „Dass zwei Bereiche der Industrie ziemlich unabhängig voneinander arbeiten, ohne verbunden zu sein, ist sehr schwer zu glauben“, sagte Kumar.
Forderung nach Datenoffenlegung
Die Statistikbehörde solle die Daten für diese 500.000 Unternehmen auf den Tisch legen, forderte Kumar. Das helfe allen, etwa auch der Weltbank und dem IWF. Diese sehen Indien derzeit ebenfalls bei rund 7,5 Prozent Wachstum. Kein Wunder, sagte Kumar. Die beiden Institutionen verwendeten ebenfalls vor allem die Daten der Regierungen. „Die machen überhaupt keine unabhängige Schätzung“, kritisierte er.
Doreen Fiedler, dpa
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