Was steckt hinter dem Boom?
Die Wirtschaft in Indien boomt - glaubt man den offiziellen Zahlen - und hat China längst abgehängt: 7,5 Prozent Wachstum im vergangenen Jahr und sogar 7,9 Prozent im ersten Quartal dieses Jahres. Doch so rosig diese Zahlen aussehen, gibt es doch einige Fallstricke, die die indische Wirtschaft noch bewältigen muss.
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So gilt es etwa, das Problem Arbeitslosigkeit in dem Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern in den Griff zu bekommen: Mehr in- und ausländische Investoren sollen dabei helfen. Der indische Premierminister Narendra Modi, der als Gouverneur des Bundesstaates Gujarat dort ein kleines Wirtschaftswunder vollbrachte, will nun seit geraumer Zeit das ganze Land umkrempeln und zu einem Wirtschaftswunder führen.

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Die Aktion „Make in India“ der Regierung Modi wählte den indischen Löwen als Zeichen
Auch der grassierenden Korruption wurde der Kampf angesagt. So soll etwa eine Hotline helfen, und einige Vergaben wurden den Bundesstaaten weggenommen und zur Zentralregierung nach Neu Delhi verlegt - auch das, ein Versuch, die Korruption einzudämmen.
„Make in India“ als große Aktion
Riesenprojekte sind geplant, so etwa ein gigantischer Industriekorridor zwischen der Hauptstadt Neu Delhi und der Hafenstadt Mumbai. Impulse verspricht man sich auch durch den Ausbau von Infrastrukturprojekten wie Eisenbahnen und U-Bahnen für die Metropolen. Mit der Initiative „Make in India“ will Modi auch die inländischen Konsumenten und Investoren vermehrt ansprechen und ausländische Geldgeber ins Land locken. Von einem Bauboom erhofft man sich ebenfalls weitere Impulse für die Wirtschaft.

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Der Bauboom ist in den Städten in Form von Werbetafeln sichtbar
Basis der Berechnung geändert
Doch während man wie gebannt auf die indischen Wachstumszahlen schaut, macht sich auch Kritik breit. Der britische „Economist“ und einige Wirtschaftswissenschaftler kritisieren etwa, dass die Basis der Berechnung des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) geändert worden sei, um das Wachstum mit 7,5 Prozent höher erscheinen zu lassen, als es tatsächlich ist. So gehe etwa der Export zurück, und auch die Kreditvergabe laufe schleppend, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Rajiv Kumar zur dpa. Auch in der indischen Presse macht sich Skepsis breit.

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Ein Cartoon in der indischen Zeitung „The Hindu“ zeigt einen Elefanten, der hofft, auf den Füßen zu landen, als Symbol für die indische Wirtschaft
Auftrieb dank Energiesektor
In Indien selbst verteidigt man die Zahl. Ein wichtiger Faktor sei, dass die Energieversorgung wieder besser funktioniert, sagt Samir Saran, Vizechef des indischen Thinktanks „Observer Research Foundation“ in Neu Delhi. Der offiziell als unabhängig geltende Thinktank berät unter anderem auch die indische Regierung.
Der Ablauf von Kohleabbau über den Transport bis zu der eigentlichen Stromproduktion in den Kraftwerken wurde wieder geschlossen - ein Effekt, der sich zwar auf die Zahlen auswirkte, allerdings kaum nach außen hin spürbar sei. „Nur“ 1,5 Prozent beträgt laut Saran der Zuwachs aus dem Konsum. Das Wachstum drang allerdings zum Gros der indischen Bevölkerung noch nicht vor.

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Das Wirtschaftswachstum ist noch nicht so richtig auf der Straße angekommen
Auf dem Energiesektor ist die Wachstumschance allerdings groß: Indien ist auch abseits der industriellen Entwicklung sehr energiehungrig. Rund 300 Millionen Inder - andere Zahlen sprechen von bis zu 400 Millionen - müssen ein Leben ohne Strom fristen. Toiletten und fließendes Wasser sind keine Selbstverständlichkeit. Auch hier ist sehr großer Nachholbedarf gegeben.
Industrie schwach entwickelt
Der Arbeitsmarkt sieht nicht so rosig aus, wie von der Regierung Modi gewünscht. Rund eine Million junger Inder drängen pro Monat neu auf den Arbeitsmarkt, doch Jobs in dieser Größenordnung fehlen. Der Industriesektor ist immer noch zu schwach entwickelt, um dieser riesigen Menge an jungen Arbeitssuchenden Arbeit zu geben. Ein weiteres Problem ist die schlechte oder oft kaum vorhandene Ausbildung. Nur rund fünf Prozent, so die Schätzung, haben eine Ausbildung. Die Hoffnung liegt auf dem IT-Sektor als neuer Jobmotor.

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In Indien gibt es Millionen kleiner Geschäfte, die die Grundversorgung sichern - Supermärkte sind noch rar
Doch das ist in dem hochspezialisierten Bereich auch rein rechnerisch gar nicht möglich. Die Selektion und der Auswahldruck sind sehr groß. So werde bei dem IT-Servicegiganten WIPRO von sechs- bis siebentausend Bewerbern pro Jahr nur jeder 15. aufgenommen, wie es aus dem Konzern heißt. Ansässig ist WIPRO - wie auch rund 4.200 andere IT-Unternehmen, darunter viele Start-ups - im als „Silicon Valley Indiens“ titulierten Bangalore.
IT-Sektor keine Lösung für Arbeitsmarkt
Die IT-Industrie ist eine Folgeerscheinung der sich seit den 1950er Jahren in der mit fast 8,5 Mio. Einwohnern mittlerweile drittgrößten Stadt nach Neu Delhi und Mumbai angesiedelten Verteidigungs- und Weltraumindustrie. Die Stadt galt, da sie im Herzen des indischen Subkontinents liegt, als sicher vor möglichen Angriffen des muslimischen Nachbarn Pakistan. Die beiden unabhängigen Staaten waren 1947 gegründet worden und aus dem alten britischen Kolonialstaat hervorgegangen.
Insgesamt sind im Großraum Bangalore „nur“ 800.000 Menschen im IT-Sektor beschäftigt. So hat der seit Jahren bestehende IT-Boom in Indien ob der großen Umsätze und der im Vergleich zur Industrie hohen Löhnen zwar seinen nicht unerheblichen Anteil am Wirtschaftswachstum, hinterlässt aber so gut wie kaum seine Spuren am allgemeinen Arbeitsmarkt.
150 Euro für einen Arbeiter
Während ein Arbeiter im Industriesektor etwa bei der indischen Niederlassung der Tiroler Firma Plansee (auf spezielle Metalle, Legierungen und deren Verarbeitung spezialisiert) laut dem Vizechef rund 150 Euro für eine Sechstagewoche zwölfmal im Jahr verdient, bekommt ein altgedienter Projektmanager bei WIPRO rund 26.000 Euro bezahlt. Für Universitätsabsolventen sind es - für indische Verhältnisse - immerhin noch gute 2.600 Euro und damit rund ein Drittel mehr als für einen Industriearbeiter bei Plansee.
Peter Bauer, ORF.at
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