Wie aus einem „V“ ein „O“ wird
Der Staatsakt und die mehrtägigen Volksfeste haben ihre Berechtigung: Der am Mittwoch nach 17 Jahren Bauzeit eröffnete Gotthard-Basistunnel in der Schweiz ist mit seiner Länge von 57 Kilometern der neue längste Tunnel der Welt und könnte erster Meilenstein eines neuen Verkehrszeitalters in Europa sein. Österreich darf sich ein wenig mitverantwortlich fühlen und die Schweiz erinnern: „Wer hat’s erfunden?“
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Dass die Schweiz den Tunnel in fast klischeehafter Exaktheit - im Kostenplan und vor dem geplanten Fertigstellungsdatum - gebaut hat, kann sie sich auf die eigene Fahne heften, ebenso wie den Rückhalt in der Bevölkerung: Das 12,2 Milliarden Franken (11,1 Mrd. Euro) teure Projekt wurde der Bevölkerung 1998 per Referendum zur Abstimmung vorgelegt und beinahe mit Zweidrittelmehrheit akzeptiert. Den theoretischen Überbau für den Tiefbau haben jedoch österreichische Ingenieure geliefert.
Einstürzende Tiefbauten
Noch bis in die 1970er Jahre galten Bauwerke wie der Mont-Blanc-Tunnel mit seinen 11,6 Kilometern Länge vor allem im Gebirge als Ende der bautechnischen Möglichkeiten: Längere Tunnel bedeuten auch, dass sie größere Gebirge queren und damit viel mehr Gebirgsmasse über ihnen liegt. Das heißt ab einer bestimmten Masse wiederum: Einsturz oder horrende Baukosten - bis der Salzburger Ingenieur Leopold Müller den Gedanken umdrehte und Tunnel bewusst „kontrolliert einstürzen“ ließ.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA
Der Gotthard-Basistunnel im Seitenschnitt
Müller und sein Partner Franz Pacher dachten sich in den 1950er Jahren die Neue Österreichische Tunnelbauweise (NÖT) aus. Glichen Tunnelquerschnitte davor meist einem umgedrehten „V“, machten sie ein liegendes „O“ daraus, bohrten die Röhre größer als nötig und ließen das Gebirge dann das „O“ zurechtquetschen. Als die jahrzehntelange Skepsis gegenüber der „typisch österreichischen Schlamperei“ widerlegt war, begann ein neues Verkehrszeitalter mit dem Gotthard-Basistunnel als nun neuem Höhepunkt.
Die Rechnung stimmt
Nicht zufällig entdeckte Europa ab den späten 1970er Jahren, als genügend menschenleere NÖT-Tunnel etwa in Kraftwerken gebaut waren - und hielten - , die Lust am Tunnel neu: vom Arlberg- über den Eurotunnel und den Gotthard-Basistunnel bis zu Projekten wie dem Brenner-Basistunnel, dem Ceneri-Basistunnel (der südlichen Verlängerung der Gotthard-Strecke) und dem Mont-Cenis-Tunnel (zwischen dem französischen Lyon und Turin in Italien).

AlpTransit Gotthard AG
Arbeiten im Gotthard-Basistunnel
Am Schluss soll die endgültige Überwindung der Alpen als Verkehrsnadelöhr stehen. Der Gotthard-Basistunnel wird das wichtigste Bindeglied der Verkehrsachse zwischen Nordsee und Mittelmeer werden, und das auf ebenem Gleisbett. Der Tunnel soll die Nord-Süd-Fahrtzeit um 45 Minuten reduzieren, Lkw-Emissionen verhindern, die Schweizer Täler von Transitverkehr befreien und nach Schweizer Berechnungen dadurch für die Volkswirtschaft letztlich „gratis“ gewesen sein.
Prüfung mit Schweizer Gründlichkeit
Mit jedem weiteren Schritt hin zur geplanten Schweizer Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) sollen sich die Effekte potenzieren. Der Ceneri-Tunnel zwischen Bellinzona und Lugano soll 2020 fertig sein und weitere 15 Minuten Fahrtzeit auf der Nord-Süd-Achse einsparen. Zusätzliche Tunnel durch den Lötschberg und den Zimmerberg sollen Lücken nach Bern und Zürich schließen. Für die gesamte NEAT sind umgerechnet rund 21 Milliarden Euro Baukosten veranschlagt.

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Alte und neue Gotthard-Strecke
Neben der NÖT kommt zumindest im Gotthard-Tunnel auch österreichische „Bodenarbeit“ dazu: Verlegte Schienen und Weichen stammen allesamt von der heimischen Voest. Es wird aber wohl nicht an der Skepsis gegenüber den österreichischen Beiträgen, sondern an der Schweizer Gründlichkeit liegen, dass nach der offiziellen Eröffnung erst einmal 3.000 Testfahrten durch den Tunnel geplant sind, bevor er geplanterweise kurz vor Weihnachten endgültig für den Güter- und Personenverkehr freigegeben wird.
Lukas Zimmer, ORF.at
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