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Das Traumhotel ist nicht dabei

„Fluchtraum Österreich“ ist ein mehrjähriges Rechercheprojekt über Architektur und Asyl, in dessen Rahmen Studenten ehemalige Tourismusunterkünfte besucht haben, in denen heute Flüchtlinge untergebracht sind. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen nicht auf der Uni versanden, sondern das Leben von und mit Flüchtlingen verbessern. Derzeit versagt das System an allen Ecken und Enden.

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Max Mariel studiert Architektur an der Technischen Universität (TU) Wien. In dieser Hinsicht ganz typischer Student, ist er mittendrin im Unileben und Campus-Chargon. ECTS-Punkte, der nahende Semesterabschluss, das Masterstudium, Lehrveranstaltungen wie das „Große Entwerfen“ und das „Kleine Entwerfen“, Gastprofessoren, all das ist seine Welt und jene der neun Kommilitonen, mit denen Mariel heuer das „Große Entwerfen“ der Lehrveranstaltungsleiter Johannes Pointl und Nina Kolowratnik besucht. Zehn ECTS-Punkte gibt es dafür. Klingt viel.

Eindrücke einer Flüchtlingsunterkunft

Enrico Fernando Weiser

Eine Alpenidylle - die aber nicht jeden glücklich macht

Für diese zehn ECTS-Punkte mussten die Studenten allerdings ihre vertraute Welt verlassen und im Mai eine Handvoll Flüchtlingsunterkünfte in drei verschiedenen Bundesländern besuchen. Wie vergangenes Jahr bereits viele freiwillige Helfer erfahren mussten, kann das emotional belastend sein. Auch für manche der Studenten war es nicht leicht, die Lebensumstände der Flüchtlinge mit eigenen Augen zu sehen und aus erster Hand von ihren Schicksalen zu erfahren. Mariel selbst jedoch ist geerdet, ein Burgenländer, ihn wirft nichts so schnell aus der Bahn.

Privat heißt nicht familiär

In den vergangenen Jahren gab es bereits schockierende, preisgekrönte Aufdeckerstorys der Rechercheplattform „Dossier“ über Flüchtlingsunterkünfte. Die Studenten der TU hingegen sind keine investigativen Journalisten, das heißt, sie sind nicht losgezogen, um einzelne Missstände öffentlich anzuprangern. Namen und Ortschaften werden hier deshalb keine genannt, da hätte man methodischer vorgehen müssen, aber das war ja nicht die Aufgabenstellung. Die Studenten sind Teil eines mehrsemestrigen Projekts samt Ausstellungen und Publikationen, vor allem wollen sie im Idealfall einen Best-Practice-Leitfaden erstellen, wie man Flüchtlinge, während sie auf ihren Asylbescheid warten, am sinnvollsten unterbringen kann.

Eindrücke einer Flüchtlingsunterkunft

Nina Kolowratnik

Die Matratze als einziger Privatraum: Hier wird Deutsch gelernt, mit dem Smartphone ferngesehen, es ist der Ort für Social Media

In Österreich leben besonders viele Asylwerber in Privatunterkünften. Privatunterkünfte sind in diesem Fall keine Wohnungen mit einem freien Zimmer und Familienanschluss, wie der Name nahelegen würde, sondern zum großen Teil ehemals touristisch genutzte Betriebe. Manche wurden von engagierten Menschen extra wiederbelebt, um Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Die meisten jedoch sind ganz einfach heruntergewirtschaftet und liegen in strukturschwachen Gebieten, in die sich kaum ein Tourist verirrt. Da sind die Besitzer froh, wenn sie wenigstens irgendwie an Geld kommen.

Kein Verlustgeschäft

Immerhin gibt es pro Flüchtling und Tag 19 Euro. Nimmt man etwa einen Betrieb, der 84 Menschen beherbergt, bedeutet das 47.800 Euro im Monat. Davon muss man freilich entweder das Geld für Vollverpflegung abziehen, also drei Mahlzeiten pro Tag, oder aber das Verpflegungsgeld von 5,50 Euro, das den Flüchtlingen ausbezahlt wird, wenn sie sich selbst verköstigen. Bleiben rund 34.000 Euro. Betriebskosten, Instandhaltungskosten, Personalkosten und Fahrtengeld abgezogen, ist das mit Sicherheit noch immer kein Verlustgeschäft.

Warum sollte es das auch sein? Mariel und seine Kolleginnen neiden keinem Gastwirt sein Geschäft, sie waren nur verwundert, eigentlich entsetzt, wie unterschiedlich es ist, was den Flüchtlingen für dieses Geld geboten wird. Einzelne Problemfelder, die immer wieder eine Rolle spielen: knapper Wohnraum, unsensibles Zusammenwürfeln von Menschen, Unterkünfte in der Einschicht, bauliche Mängel, das Vernachlässigen von Bedürfnissen und mangelhafte Vorbereitung der Unterkunftgeber auf ihre Aufgabe.

Vollpension am Ende der Welt

Mariel berichtet von einem Feriendorf, das einen Kilometer vom nächsten Nachbarn und zehn Kilometer von der nächsten größeren Ortschaft entfernt liegt. Laut Zielvorgaben von Hilfsorganisationen sollte es so etwas nicht geben - sämtliche Einkaufsmöglichkeiten müssten zu Fuß erreichbar sein, weil Flüchtlinge ja kein Auto haben. Dazu kommt, dass es sich um ein Vollversorgerheim handelt. Das hört sich zunächst gut an - dreimal täglich Essen serviert bekommen, wie im Urlaub.

Eindrücke einer Flüchtlingsunterkunft

Johannes Puchleitner

Tage-, wochen- und monatelang herumsitzen

Mariel sieht das anders: Durchs Selberkochen haben die Flüchtlinge eine gemeinschaftliche Aufgabe. Sie mischen sich beim Einkaufen unter die Menschen. In einem Vollversorgerheim wie dem beschriebenen hingegen gibt es rein gar nichts zu tun - außer herumzusitzen und mit dem Smartphone herumzuspielen. Konfliktsituationen sind unter solchen Bedingungen quasi programmiert. Gegenüber den Studenten beschweren sich die Flüchtlinge etwa über einen „Spitzel“ des Wirts - mehr dazu in oe1.ORF.at.

Überraschungskontrollen und keine Schlüssel

In einer anderen Unterkunft wiederum sind die syrischen Gäste aufgebracht, weil angeblich einer von ihnen ein „Spitzel Assads“ ist. Gerüchte, Emotionen und Konflikte kochen hoch in Zeiten monate-, wenn nicht jahrelanger Untätigkeit. In manchen der Häuser, so Mariel, seien Erzfeinde aus ein und demselben Kriegsgebiet zusammen untergebracht. Dann wieder leben in einem Quartier zahlreiche Familien und unter ihnen zwei einzelne 17-Jährige, die sich, wenig überraschend, vom Rest der Gruppe absondern. Andernorts umgekehrt: 54 Männer und eine Familie.

Unbefriedigend ist oft auch die Zimmersituation. In den wenigsten Unterkünften gibt es die Möglichkeit, sich in versperrbare Räume zurückziehen, von Intimität und Privatsphäre kann keine Rede sein - meist über viele Monate hinweg, und das unter Erwachsenen. Gruppenzimmer sind also nicht nur in Erstaufnahmezentren wie Traiskirchen gang und gäbe. Pointl und Kolowratnik, die Betreuer von Mariel, in einem Artikel anlässlich der 15. Architekturbiennale von Venedig: „Überraschungskontrollen der Zimmer durch die Betreiberinnen sowie das häufige Fehlen von Zimmerschlüsseln sorgen dafür, dass selbst die kleinste dem Flüchtling zugeteilte Einheit immer einsehbar ist.“

Katakomben mit Kakerlaken

Ganz zu schweigen von echten Missständen, wie sie Mariel auch gesehen hat, besonders in einem Fall. Dort war nicht nur die ganze Gastwirtschaft von Haus aus katakombenartig, finster und verwinkelt angelegt - auch die hygienischen Standards waren mangelhaft. Kakerlaken und Ratten sahen die Studenten - und einen Mann mit schwerer Kriegsverletzung im dritten Stock ohne Aufzug. Dazu kommt die Einstellung eines Teils der Wirte. Mariel: „Einem Sozialarbeiter hätten sie das nie gesagt, aber weil sie dachten, dass wir uns eh nur für die Architektur interessieren, nahmen sie sich kein Blatt vor den Mund.“

Sinngemäß bekamen die Studenten zu hören, dass sich der eine oder die andere „überhaupt nicht“ für die Leute interessiert, aber eben auf das Geld angewiesen sei. Keine gute Voraussetzung für das Betreiben einer Flüchtlingsunterkunft, vor allem weil die Hilfsorganisationen, die sich kümmern sollten, in manchen Regionen wegen knapper Ressourcen nur alle zwei, drei Wochen in einem Heim vorbeischauen. Die zuständigen Flüchtlingsbeauftragten der Bundesländer winken gegenüber Ö1 ab - es werde genug kontrolliert und unterstützt - mehr dazu oe1.ORF.at.

Flüchtlingsbetreuer ohne jede Vorbereitung

Aber die mangelnde Betreuung, die betrifft auch Flüchtlingsunterkünfte, in denen sich die Betreiber redlich bemühen: Sie sind nicht vollends, aber doch recht alleine gelassen und bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gefordert. Mariel berichtet von einer Unterkunft, in der eine Frau alleine für Dutzende Flüchtlinge zuständig ist, ohne dafür auch nur irgendwie ausgebildet worden zu sein - ursprünglich war sie als Hilfskraft eingestellt. Nun kümmert sie sich um die täglichen Sorgen der Gäste, ist gleichzeitig Hausmeisterin, Putzfrau, Sozialarbeiterin und Psychologin.

Die patente Frau hat sich seit über einem Jahr nicht freigenommen. War sie früher noch skeptisch gegenüber Flüchtlingen, ist sie das nun nicht mehr. Erstens kennt sie die dramatischen Geschichten ihrer Gäste - und zweitens wird sie oft zum Essen eingeladen. Auch das haben Mariel und seine Kollegen oft erlebt: Selbst kochen zu können und damit die Möglichkeit zu haben, Gäste zu bewirten, scheint den Flüchtlingen immens wichtig zu sein. Das stärkt das Selbstwertgefühl.

Kleine Ideen, große Wirkung

Es sind vor allem solche positiven Beispiele, die von den Studenten gesammelt werden. Mariel sagt, dass es oft nur kleine Ideen sind, die sich als fruchtbringend erweisen - und deren Umsetzung keinen Cent extra kostet. So werden zum Beispiel in einer Ortschaft Kleider gesammelt, aber nicht verschenkt, sondern zu sehr geringen, symbolischen Preisen an die Flüchtlinge verkauft. Dadurch kommen diese erstens nicht in eine Bittstellersituation und haben zweitens ein echtes Shoppingerlebnis - zumindest ein bisschen.

Eindrücke einer Flüchtlingsunterkunft

Özlem Simsek

Die Gaststube, traditionell ein Ort des Zusammenkommens

Auch mehr Achtsamkeit bei der Aufteilung der Flüchtlinge würde kaum Extrakosten verursachen, außer vielleicht ein paar Stunden administrativen Mehraufwands. Sind Familien mit kleinen Kindern zusammen in einem Heim, können sie einander helfen - junge Eltern teilen gerne ihre spezifischen Sorgen und Probleme, das ist ja nicht nur bei Flüchtlingen so. Und dass Gruppen, die in ihrer Heimat verfeindet sind, sich auch unter den prekären Umständen in einem Asylwerberheim nicht gut verstehen werden, sollte niemanden überraschen.

Der Zufall regiert

In zwei der Unterkünfte war es so, dass engagierte Menschen eine alte Gastwirtschaft nur übernommen haben, um Flüchtlingen zu helfen. Das ist der Idealfall: So verzahnt sich die Zivilgesellschaft mit Hilfsorganisationen, ein Netzwerk an Freiwilligen und Profis will sich um Menschen kümmern, unentgeltliche Deutschkurse werden genauso organisiert wie ein Freizeitprogramm. So viel Spielraum gibt es: Vom engagierten Hilfsprojekt bis hin zum Wirt, der einfach nur Geld verdienen möchte - und natürlich alle Schattierungen dazwischen.

Mariel würde sich wünschen, dass nicht so viel dem Zufall überlassen bleibt, sprich dass es nicht auf das Bundesland, die Gemeinde, die betreuende Hilfsorganisation und den Wirt ankommt, ob Flüchtlinge ein Leben in Würde führen können, bis sie den Asylbescheid erhalten. Jetzt gelte es, österreichweit die Erfahrungen des letzten Jahres zu bündeln: Was funktioniert gut, wo ließe sich durch das Drehen an wenigen Schrauben Einiges verbessern? Die Studenten hätten da einige Ideen. Bleibt zu hoffen, dass sie gehört werden.

Integration als Einbahnstraße

Denn wenn immer nur lokal einzelne Verbesserungen durchgeführt werden, ändert das nichts am System. Ein System, das, wie Pointl und Kolowratnik von der TU schreiben, „unter dem Deckmantel des nationalen Notstands grundlegende Bedürfnisse des Wohnens, die Möglichkeit einer Selbstbestimmung der Lebensführung sowie die Wahrung der Privatsphäre und der Identität missachtet“. Es wird Zeit, dass langfristig tragfähige Flüchtlingsunterkünfte eingerichtet werden - wenn Integration nicht nur ein Schlagwort bleiben soll. Integration besteht nicht nur aus Pflichten, sondern auch aus Rechten. Eine Einbahnstraße führt hier nicht ans Ziel.

Simon Hadler, ORF.at

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