Parteien vermissen Solidarität
Viel Kritik hat es am Mittwoch im Europaparlament bei der Debatte über den Vorschlag der EU-Kommission zur Dublin-Reform gegeben. Vor allem wurde bemängelt, dass das Erstlandaufnahmeprinzip bleibe, und auch der mögliche „Asylfreikauf“ mit 250.000 Euro pro Flüchtling stieß auf Ablehnung. Die Brüsseler Behörde verteidigte ihren Plan und kündigte weitere Schritte an.
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In der Debatte hatte Roberta Metsola von der EVP erklärte, dass einige Staaten sich aus ihrer Verantwortung freikaufen könnten sei nicht der beste Weg zu einer effizienten Solidarität. „Entweder sind alle geeint, oder wir stehen überhaupt nicht zusammen.“ Elly Schlein von den Sozialdemokraten zeigte sich enttäuscht, weil der Dublin-Vorschlag weiter hinter den Erwartungen zurückbleibe. „Dublin muss beseitigt werden und darf nicht künstlich verlängert werden.“
Konservative wollen Maximalgrenze
Das Erstlandprinzip ergebe sich aus einer Notsituation. „Aber wenn über sechs von 28 EU-Staaten 80 Prozent der Asylanträge bearbeiten müssen, hat es wohl keinen Zweck mehr, von vorübergehendem Notfall zu sprechen.“ Beim Freikauf stelle sich die Frage, ob man Solidarität überhaupt in Geld ausdrücken könne. Von den Konservativen sagte Helga Stevens, zunächst sei eine Maximalgrenze notwendig. Dann könne man darüber sprechen, ob das ausgeweitet werden könne.
Die Liberale Cecilia Wikström hofft doch auf eine Zusammenarbeit der Staaten. Kritik übte sie an der Regelung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe hier schon klar gezeigt, dass es nicht im Interesse der Kinder sei, „wie Pingpongbälle oder Koffer quer durch Europa geschickt zu werden“. Cornelia Ernst von den Linken kritisierte den Dublin-Vorschlag der Kommission dahingehend, dass „übermütig ein toter Hase für quicklebendig erklärt“ worden sei.
Dublin-System laut Linken tot
„Das Dublin-System ist tot, nun will man es wiederbeleben.“ Auch der Korrekturmechanismus für den Fall eines außergewöhnlichen Migrationsdrucks ändere nichts daran. Außerdem könnten Flüchtlinge nicht wie „Kartoffelsäcke verschickt werden“. Die 250.000 Euro Freikauf für nicht aufgenommen Asylwerber hält sie für ein Ablenkungsmanöver.
Die grüne Mandatarin Jean Lambert sagte, es seien bei Dublin noch viele Änderungen notwendig. Laura Ferrara von der Fraktion „Europa der Freiheit und der Direkten Demokratie“ kritisierte, dass die Erstaufnahmeländer immer noch die größte Last trügen. „Warum muss man so lange warten, bis ein Land zusammenbricht?“, sagte sie. Vielmehr sollte das Stimmrecht für jene Staaten ausgesetzt werden, die sich einer solidarischen Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsaufnahme entzögen.
Kommission räumt Schwächen Dublins ein
Der Abgeordnete Marcus Pretzell von der Rechtsaußen-Fraktion ENF (Europa der Nationen und der Freiheit) sieht die Dublin-Regeln im „Mülleimer der Geschichte“ gelandet. Niemand mehr in der EU beachte Dublin. Zuvor hatten der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, und Innenkommissar Dimitris Avramopoulos die Vorschläge verteidigt. Sie räumten ein, dass die Schwächen Dublins allgemein bekannt seien.
Dublin sei nicht für eine derartig große Zahl an Flüchtlingen wie im vergangenen Jahr ausgelegt gewesen, sagte Timmermans. Allerdings sei Solidarität bei der Aufnahme unter den EU-Staaten notwendig. Die Flüchtlinge würden jedenfalls besser geschützt. Avramopoulos sieht in der Dublin-Reform den ersten wesentlichen Schritt. Kein EU-Land dürfe im Stich gelassen werden. Sobald ein Land 150 Prozent der ihm zugewiesenen Flüchtlinge aufgenommen habe, trete ein Korrekturmechanismus in Kraft.
Avramopoulos kündigte weitere Vorschläge an
Alle Asylwerber darüber hinaus müssten dann auf andere Staaten verhältnismäßig aufgeteilt werden. Außerdem werde es eine leichtere Identifizierung durch die Speicherung von Daten von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen geben, womit wiederum leichter Rückführungsentscheidungen durchgesetzt werden könnten.
Avramopoulos kündigte eine zweite Phase von Legislativvorschlägen an, um mehr Konvergenz bei den Asylverfahren zu erreichen. „Wir möchten ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das weltweit das beste ist“, meinte er. Schließlich gelte es, die legalen Möglichkeiten der Migration zu erleichtern, und deshalb werde die Kommission bald strukturelle Neuansiedlungssysteme vorschlagen.
Kritik an Österreichs Brenner-Plänen
Unterdessen forderten EU-Parlamentarier ein möglichst rasches Ende der Grenzkontrollen zwischen mehreren Ländern des eigentlich kontrollfreien Schengen-Raumes. Zugleich betonten sie die Notwendigkeit sicherer Außengrenzen. Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen sollten ihre Grenzkontrollen höchstens weitere sechs Monate aufrechterhalten dürfen, sagte Avramopoulos.
Die Kommission hoffe, dass es danach keine solchen Kontrollen mehr geben werde. Er warnte vor „den politischen Kosten eines Nicht-Schengen“. Bei der Debatte wurde auch Kritik an Österreichs Plänen über eine Grenzkontrolle auf dem Brenner geäußert. Generell betonten Vertreter von Kommission und Ratsvorsitz die Errungenschaft des Schengen-Raums.
Flüchtlingspakt mit Türkei immer ungewisser
Zudem gab es im EU-Parlament starke Vorbehalte gegen eine Visaliberalisierung für die Türkei. Vor allem wurde die Haltung der EU-Kommission kritisiert, der ein Ausverkauf europäischer Werte vorgeworfen wurde. Kommission und Rat unterstrichen, die Türkei müsse zuerst alle 72 Vorbedingungen erfüllen und auch ihre Anti-Terror-Gesetzgebung ändern, bevor die Visapflicht für Türken fallen könne. Deren angestrebte Aufhebung bis Ende Juni scheint inzwischen mehr als fraglich.
Da die Regierung in Ankara ebenfalls auf Konfrontationskurs steuert, wird auch die Zukunft des Flüchtlingspakts mit der EU immer ungewisser. Innenkommissar Avramopoulos schloss sich zwar der Kritik an, verwies aber gleichzeitig auf Erfolge des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals: „Wir sehen einen deutlichen Rückgang bei den Ankünften von Flüchtlingen - im Herbst waren es täglich 6.000, jetzt sehr viel weniger.“ Die Zahl gehe noch weiter zurück.
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