Vize aus Rousseffs Sicht „Verräter“
Es war eine Panne mit Symbolwert. Ein an die Öffentlichkeit gelangtes WhatsApp-Audio-File von Brasiliens Vizepräsident Michel Temer belegt, dass dieser schon seit Wochen die Rede übte, die er beim Amtsantritt als interimistischer Nachfolger seiner vormaligen Koalitionspartnerin und Präsidentin Dilma Rousseff halten wollte. Auch so war sein Drängen an die Macht aber unübersehbar.
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„Im Vergleich zu Temer ist Judas ein Anfänger“, beschrieb der britische „Guardian“ den 75-jährigen Parteichef der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB), der seit 2010 in einem Wahlbündnis mit Rousseffs Arbeiterpartei (PT) und damit auch in deren Schatten stand. Als Rousseffs tiefer Fall absehbar wurde, kündigte er die Koalition, blieb aber dank inzwischen geschmiedeter Bündnisse weiter Vize, um sie zumindest vorübergehend während einer Amtssuspendierung beerben zu können.
Bevölkerung misstraut auch Temer
Rousseff nennt Temer ohnehin nur noch „Verräter“. Wie zerrüttet das Verhältnis schon länger ist, zeigte ein Schreiben im Dezember, als er kritisierte, er sei nur „Dekorationsvize“. „Es gibt ein absolutes Misstrauen von Ihnen und Ihrer Umgebung in Bezug auf mich und die PMDB“, schrieb Temer. Nun sieht er seine Stunde gekommen. Eingestandenermaßen freute sich seine 32-jährige Frau schon darauf, während der Olympischen Spiele in Rio ein Gastspiel als First Lady geben zu können.

AP/Leo Correa
Temer mit Ehefrau Marcela
Mehr als ein Gastspiel ist schwerlich drin: Einer Umfrage zufolge sind 58 Prozent der Bevölkerung auch für seine Amtsenthebung. Er ist Teil der Regierung, seine Zustimmungswerte bewegen sich auf ähnlich tiefem Niveau wie bei Rousseff. Die PMDB ist mindestens genauso involviert in den Korruptionsskandal bei Auftragsvergaben des halbstaatlichen Petrobras-Konzerns wie Rousseffs Arbeiterpartei. Gegen mehr als die Hälfte aller brasilianischen Abgeordneten wird derzeit wegen Korruption ermittelt.
Wechselnde Koalitionen mit ein und demselben Ziel
Seit 2001 führt Temer die PMDB, eine Partei, die bereits mit unterschiedlichen Parteien koaliert und es sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele Ämter zu besetzen, statt in die Opposition zu gehen. Temer ist bestens vernetzt, war auch schon zweimal Präsident des Abgeordnetenhauses. Er will die Zahl von 31 Ministerien deutlich verringern, Zehntausende Posten im öffentlichen Dienst streichen, viel privatisieren und mit Reformen die Rezession bekämpfen. Über elf Millionen Brasilianer sind bereits arbeitslos.
Temer entstammt einer katholischen Familie aus dem Libanon, die 1925 nach Brasilien emigrierte. Sein Vater war in Tiete im Bundesstaat Sao Paulo im Kaffee- und Reisgeschäft tätig. Temer studierte in Sao Paulo Rechtswissenschaften und promovierte zur Verfassungsgeschichte Brasiliens. Seine nunmehrige Frau Marcela erwartet gerade ihr zweites Kind, aus zwei weiteren vorangegangen Beziehungen hat er vier weitere Kinder.
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