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Die „weinende Brücke“

Vier Kilometer - gut zwei davon auf Viadukten - führt die Floridsdorfer Hochbahn durch Wiens Nordosten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war über diesen Lückenschluss zwischen Nord- und Nordwestbahn diskutiert worden. Der schnelle Transport kriegswichtiger Güter gab dann schließlich den Ausschlag, das Projekt umzusetzen.

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Im Mai 1916 begannen die Arbeiten, die in Rekordzeit durchgepeitscht wurden und ihre Opfer forderten. Es sind lediglich vier Kilometer Bahnstrecke, und die auf Dämmen und Viadukten geführte Verbindungsstrecke wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für ein halbes Jahrhundert nicht genutzt - die Floridsdorfer Hochbahn erzählt dennoch viele Geschichten.

Floridsdorfer Hochbahn

Johanna Meneder

Historische Aufnahme: Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Trasse ungenutzt und verfiel stellenweise

Seit dem Jahr 1999 ist die „Italienerschleife“ für den Bahnverkehr wieder in Betrieb. Heute dient sie mit wenigen Ausnahmen dem Güterverkehr. An die Umstände der Entstehung des riesigen Verkehrsbauwerks erinnert seit der Wiedereröffnung ein Denkmal von Wander Bertoni, einem österreichischen Bildhauer mit italienischen Wurzeln. „Die weinende Brücke”, ein in der Mitte durchtrennter Bogen, ragt als deutlich sichtbares Element des Brückenbauwerks hoch über der Siemensstraße. Die Eröffnung fand damals in Anwesenheit offizieller Vertreter Italiens statt.

Spekuliert wird immer

Bereits im Jahr 1911 beschäftigte sich das Eisenbahnministerium mit der Trassierung diverser Verbindungslinien im Nordosten Wiens. Auch zwischen der Nordbahn und der Nordwestbahn in Floridsdorf fehlte eine solche Gleisverbindung, die aufgrund des steigenden Bahnverkehrs zwischen dem Norden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und der Hauptstadt umso notwendiger geworden war. Doch zunächst scheiterte das Projekt.

Grundstücksspekulationen entlang der geplanten Trasse trieben die Projektkosten dermaßen in die Höhe, dass die geplante Verbindungslinie finanziell nicht mehr tragbar war. Wien blieb für den Schienenverkehr zwischen Norden und Süden weiterhin ein Nadelöhr. Damals endeten in Wien gleich neun Bahnlinien, deren Schienennetz wenig aufeinander abgestimmt war.

Der Rückstau des Krieges

Doch kaum hatte der Erste Weltkrieg begonnen, kam es im Norden Wiens regelmäßig zum Rückstau der Güterzüge. Das Verkehrsaufkommen war durch den Transport vieler kriegswichtiger Güter enorm gestiegen.

Auf Betreiben des Kriegsministeriums, das die unzulängliche Situation im November 1915 mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck brachte, galt die Verbindungsschleife zwischen Jedlersdorf und der Leopoldau fortan als kriegswichtiges Vorhaben. Das Ministerium machte Tempo.

Gefangene aus Sigmundsherberg

Das zeigte sich vor allem in der Wahl der Mittel. Das Kriegsministerium bot zur raschesten Umsetzung des Bauvorhabens Kriegsgefangene an. Rund 6.000 italienische Zwangsarbeiter wurden aus dem Kriegsgefangenenlager Sigmundsherberg rekrutiert und in neue Nebenlager in der Leopoldau und Breitenlee gebracht.

Das Lager Sigmundsherberg im Bezirk Horn in Niederösterreich internierte ab Ende des Jahres 1915 russische und italienische Kriegsgefangene. Ihre Zahl stieg im Lauf des Jahres auf etwa 56.000 an. Sie lebten unter katastrophalen Bedingungen in Baracken. Doch noch waren sie in verhältnismäßig guter Verfassung und für Zwangsarbeiten einsetzbar.

Die Gefangenen der zwölften und letzten Isonzo-Schlacht im Oktober des Jahres 1917 kamen im Gegensatz zu den Gefangenen des ersten Jahres bereits in miserabler Verfassung im Lager an. Bis zum Jahr 1918 forderte das ständig überbelegte Lager Tausende Menschenleben.

Baustart nach der Feldarbeit

Im Mai 1916 konnten die Bauarbeiten endlich beginnen – zuvor waren die italienischen Kriegsgefangenen zur Arbeit auf den Äckern abgestellt, um die Frühjahrssaat auszubringen. 114 Bogenviadukte mit einer Spannweite von 14 Metern und einer Pfeilerhöhe von 3,5 Metern galt es zu errichten. Die Gesamtlänge der Viaduktstrecke machte knapp 2.200 Meter aus. Die restlichen Abschnitte der in Summe etwa 4.500 Meter langen Gleisverbindung wurden von den Zwangsarbeitern in Form von Dämmen aufgeschüttet.

Der Bau von Viaduktstrecken und die generell waghalsige Linienführung war im damaligen Wien keine Besonderheit. Knapp zwei Jahrzehnte zuvor entstanden mit der Wiener Stadtbahn und der Vorortelinie, die in der Trassierung eigentlich die Merkmale einer Gebirgsbahn aufweist, ambitionierte Verkehrsbauwerke, die Wiens Stadtbild heute noch prägen.

Stampfbeton in Handarbeit

Als Baumaterial für die Gewölbe der Floridsdorfer Hochbahn diente Stampfbeton – die Methode trug der niedrigen fachlichen Qualifikation der Zwangsarbeiter Rechnung. Die gesamte Betonmenge für alle 114 Viaduktbögen machte um die 43.000 Kubikmeter aus. Der Beton musste von den Gefangenen von Hand hergestellt werden.

Floridsdorfer Hochbahn

ORF.at/Roland Winkler

Aktueller Blick auf die Trasse von der Brünner Straße im Norden Wiens aus

Bereits nach sieben Monaten waren die Bauarbeiten an der Floridsdorfer Hochbahn beendet. Die Belastungsprobe erfolgte am 16. November 1916. Am 1. Dezember wurde die Strecke offiziell in Betrieb genommen.

Bahnbau unter widrigen Bedingungen

Wie viele Tote die Bauarbeiten letztlich forderten, ist nicht bekannt. Der Eisenbahnbau war damals jedoch ein generell tödliches Geschäft. Der Bau der Semmeringbahn, ein gutes halbes Jahrhundert zuvor, der ohne Zwangsarbeit durchgeführt wurde, forderte Hunderte Todesopfer.

Im Norden Wiens waren es weniger die widrigen Bedingungen des Gebirges, die die Zahl der Todesopfer in die Höhe trieb, sondern die schrecklichen Bedingungen in den Arbeiterunterkünften, die für massenhaftes Sterben der Zwangsarbeiter durch Krankheiten wie Cholera sorgten.

Zerstörung im Krieg

Die Errichtung der „Italienerschleife“ änderte freilich nichts am militärischen Untergang der Monarchie. Nach dem Krieg wurde die Floridsdorfer Hochbahn weiter verwendet und war mit dem Zweiten Weltkrieg erneut von verkehrsstrategischer Bedeutung.

Die ölverarbeitende Industrie im damaligen Floridsdorf war während des Krieges häufiges Ziel der alliierten Bombenabgriffe – auch die Hochbahn wurde beschädigt, aber immer wieder notdürftig instand gesetzt. Bis die Wehrmacht kurz vor Eintreffen der Roten Armee jene Brücke, die die Hochbahn über die Trasse der Nordbahn führt, aus strategischen Gründen sprengte.

Die unbefahrene Brücke

Bereits 1947 folgten die ersten Maßnahmen zur Revitalisierung. Anfang 1949 wurde die gesprengte Brücke über die Nordbahn erneuert. Die Instandsetzung der zerstörten Viadukte kam allerdings zum Erliegen, weil der Beton im Wohnbau dringender benötigt wurde. Die „Italienerscheife“ versank im Dornröschenschlaf. Ab den 1960er Jahren wurden die kleineren Stahlbrücken der Trasse demontiert und an anderen Orten wiederverwendet.

Floridsdorfer Hochbahn

Johanna Meneder

Blick in die Vergangenheit: Eine der vielen Stahlbrücken auf der Strecke

Nur für die 1949 erneuerte Brücke gab es keine neue Bestimmung – auch nicht, als die Strecke ab Mitte der 1990er Jahre revitalisiert wurde. Die Brücke war durch Korrosion unbrauchbar geworden. Im Februar 1995 wurde sie demontiert - und überdauerte damit ein halbes Jahrhundert, ohne dass jemals ein Zug über sie gefahren ist.

Johannes Luxner, ORF.at

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