Marienerscheinung und der Rock Afrikas
Tomas Zierhofer-Kin wird ab dem kommenden Jahr die Wiener Festwochen verantworten. Zum Abschied des langjährigen Leiters wartet das am Freitag angelaufene Donaufestival mit undogmatischen Sounds auf - und reflektiert damit gesellschaftliche Befindlichkeiten auf der Suche nach einer machbaren Zukunft. Die Eröffnung bot vor allem bemerkenswerte Musik mit afrikanischer Prägung.
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Pop als Projektionsfläche bekam am frühen Freitagabend in der Kremser Minoritenkirche mit dem Auftritt von Hatsune Miku eine vollkommen neue Bedeutung. Miku gilt in ihrer Heimat Japan seit vielen Jahren als großer Popstar. Sie ist aber kein Bühnenstar aus Fleisch und Blut: Bei Miku handelt es sich um einen animierten 3-D-Charakter, der bereits Spuren zog, wie es wohl keine reale Person im Popgeschäft kann.
Ursprünglich nur als Sprachsynthesizer konzipiert, dessen artifizielle Stimme jeder mit Inhalt füllen kann, ist Miku längst zum Cyberstar geworden, dessen Anhängerschaft mit großem Eifer für die Inhalte sorgt. Über 100.000 Songs entstanden seit 2007 mit Hilfe der Fans auf diesem Weg. In Japan füllt die animierte Figur die ganz großen Hallen und begeistert damit vor allem ein sehr junges Publikum. Im Rahmen des Donaufestivals agierte Miku im Kontext der Kunst. Es ist ein besonderes Schauspiel, wenn Pop durch und durch zur virtuellen Nummer wird.
Der schwebende Popstar
Miku schwebt dabei als Hologramm frei im Raum, dahinter und daneben werden zur atmosphärischen Verdichtung collagenartige Visuals auf drei Leinwände projiziert. Der Raum der Minoritenkirche könnte dafür passender nicht sein. Das digitale Schauspiel lässt zunächst an eine Marienerscheinung denken und beweist, dass es atmosphärisch einerlei ist, ob hier ein Mensch die Stimme erhebt oder ein ausgeklügelter 3-D-Charakter für die popkulturelle Inszenierung sorgt.

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Wenn Pop virtuell wird: Hatsune Miku ist eine 3-D-Figur und wurde zum Superstar in Japan
Die Kunstfigur Hatsune Miku, die von sich aus nichts mitbringt als eine leere Hülle, arbeitet mit den Sehnsüchten des Publikums und hebt die Fankultur auf eine Ebene mit sich selbst. Hier beginnen viele Grenzen zu verschwimmen. Und genau das ist auch im Sinn des Donaufestivals. Der theoretische Ansatz des Festivals, das noch bis zum 6. Mai läuft, spricht heuer von „der fundamentalen Aufhebung des Normativen“. Das Festival möchte eine andere mögliche Welt sinnlich wie intellektuell fassbar machen.
Syrische Hochzeit mit Beats
Der Headliner des Eröffnungsabends leistete im Kremser Stadtsaal Ähnliches: Denn geht es nach den gängigen Grenzen der Kultur und den Konventionen der Musikwelt, dürfte es einen Mann wie Omar Souleyman eigentlich gar nicht geben. Souleyman vereint das vermeintlich Unvereinbare. Als Hochzeitssänger tingelte der Syrer jahrelang durch seine Heimat. Bis der Westen den charismatischen Mann, von dem Hunderte Mitschnitte seiner Hochzeitsauftritte kursieren, für sich entdeckte.

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Der syrische Hochzeitssänger Omar Souleyman wurde zum Grenzgänger zwischen den Kulturen
Seitdem trotzt Souleyman mit seiner Vermengung von Weltmusik, traditionellen Dabke-Klängen und zeitgenössischer Elektronik allen Vergleichen. Er arbeitete mit Björk und wurde dank prominenten Gastspielen wie in Glastonbury zum Geheimtipp für jene Leute, die glauben, bereits alles gehört zu haben. Auch damit ist Souleyman in Krems genau richtig. Und er hatte es zunächst leicht, als er am Freitag weit nach Mitternacht die Bühne des Stadtsaals betrat.
Für jede Hüfte verständlich
Denn Souleyman spricht die Hüfte an. In seiner Musik steckt eine Unmittelbarkeit, die tatsächlich imstande ist, Barrieren zu überwinden. Den Schwung, den Souleyman in Krems zunächst auslöste, konnte er zwar über die Länge des Konzerts nicht mitnehmen. Dennoch wusste die charismatische Erscheinung den Raum zu füllen. Souleyman umgibt die Aura des Unnahbaren, dem Musiker kommt selten ein Lächeln aus. Um kurz nach 2.00 Uhr entließ er dann ein glückliches Publikum in die kalte Nacht. Doch eigentlich gehörte der Eröffnungsabend des Donaufestivals dem afrikanischen Kontinent.
Rollstuhl-Rock aus dem Kongo
Allen voran Mbongwana Star aus dem Kongo zeigte sich am Freitag als furiose Combo. Das Sextett übt sich auf seinen Platten in einem brachialen Rockentwurf quer durch die vergangenen Jahrzehnte, der mit viel Elektronik angereichert ist. Die Gruppe ging aus Teilen von Staff Benda Bilili hervor – ein Straßenmusikerprojekt mit an Polio erkrankten Musikern aus Kinshasa. Die Vokalisten von Mbongwana Star sitzen im Rollstuhl und entwickeln dabei eine bemerkenswerte Energie, die von der Band, die live in klassischer Rockbesetzung auftritt, vehement in die Höhe getrieben wird.

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Dub, Grime, Hip-Hop und Soul als düstere Darbietung: Gaika aus Brixton
Tief gestimmte Gitarren in der Tradition von Black Sabbath müssen dabei ebenso sein wie Gitarrensoli, wie sie sonst nur der Stadion-Rock zutage fördert. Erstaunlicherweise klingt Mbongwana Star trotz dieser konventionellen instrumentalen Rahmenbedingungen so gar nicht altbacken. Die Kongolosen legten am Freitag einen höchst zwingenden Auftritt hin – ebenso wie Gaika aus Brixton, der zwischen Dub, Grime, Hip-Hop und Soul zu Hause ist.
Ein „Düstermann“ seziert die Gesellschaft
Der Brite mit afroamerikanischen Wurzeln zeigt sich dabei gerne als „Düstermann“, der sich mit effektbeladener Stimme, die zwischen Gesang und Sprechgesang changiert, kämpferisch gibt. Auch Gaika versucht sich mit äußerster Vehemenz jeglicher Kategorisierung zu entziehen – einer, der keine Kompromisse kennt und auf textlicher Ebene die Verortung schwarzer junger Männer in westlichen Gesellschaften thematisiert. Er zeigte sich als charismatische Bühnenfigur, die ihr Anliegen sehr dringlich transportiert und spüren lässt.

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RP Boo war in Krems für die Clubkultur zuständig und ließ vortanzen
Missverständnisse der Clubkultur
Und mit Hieroglyphic Being und RP Boo hatte am Freitag auch die Clubkultur ihren Platz. Insbesondere RP Boo, der sich am klassischen House Sound Chicagos orientiert und akustische Ausflüge in viele Disziplinen kennt, begeisterte mit unerwarteten Sounds.
Inmitten schwerer Beats mischt er mit Leichtigkeit etwa Roy Ayers „Everybody Loves the Sunshine” und weiß mit seinem Publikum zu spielen. Auch wenn das Donaufestival-Publikum selbst bei DJ-Acts dazu neigt, ehrfürchtig den Künstler zu beobachten, anstatt die musikalische Vorlage als das zu verstehen, was sie ist: eine Aufforderung zu enthemmten Tanzeinlagen.
Johannes Luxner, ORF.at
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