„Ein Reaktor sei beschädigt“
Die atomare Katastrophe in Tschernobyl vor genau 30 Jahren ist erst mit tagelanger Verzögerung und „auf Raten“ bei den Österreicherinnen und Österreichern angekommen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die damalige Sowjetunion den Super-GAU tagelang geheim hielt - und auch danach Informationen nur zögerlich weitergab.
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Erst am 28. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe, gab die sowjetische Führung erstmals Probleme zu. Die APA brachte an diesem Abend genau während der laufenden Zeit im Bild 1 um 19.36 Uhr die erste Meldung.
Erste unscheinbare Meldung
Wörtlich hieß es darin: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist es nach einer Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom Montag zu einem Unfall gekommen. Ein Reaktor sei beschädigt, zurzeit seien Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen des Unfalls im Gang, den Betroffenen werde Hilfe zuteil. Der genaue Zeitpunkt des Unfalls ging aus der Meldung nicht hervor.“ Weiter hieß es bloß, dass zur Klärung der Unfallursache eine Regierungskommission eingesetzt worden sei.
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Die ORF-Berichte der ersten Tage zeigen, dass das ganze Ausmaß der Katastrophe erst nach und nach bekannt und bewusst wurde.
Am Tag darauf, pünktlich um 19.30 Uhr, begrüßte der damalige Moderator Günter Schmidt die Zuseherinnen und Zuseher mit folgenden Schlagzeilen: „Guten Abend, meine Damen und Herren bei der Zeit im Bild 1 - das sind unsere heutigen Berichte: Atomkatastrophe bei Kiew - ein Reaktor brennt - bisher noch keine Klarheit über die Art des Unfalls. Radioaktive Strömung nach Skandinavien. Die Sowjetunion bittet das Ausland um Hilfe. Auch in Österreich ist die Strahlenbelastung geringfügig angestiegen. Sie beträgt aber nicht einmal ein Tausendstel des Wertes, der als gesundheitsschädlich gilt.“
Erste Vorboten
Am Tag davor - während die ersten Agenturmeldungen zum GAU über die Fernschreiber ratterten - hatte die Zeit im Bild 1 über die Vorboten der Katastrophe berichtet: In Finnland und Schweden waren aufgrund der herrschenden Windströmung erste radioaktive Wolken von Tschernobyl angekommen. Das schwedische AKW Forsmark wurde evakuiert, nachdem bei Mitarbeitern erhöhte Strahlung gemessen wurde.
Erster Verdacht in Finnland
„Tatsächlich dürften die Messanlagen auf die Radioaktivität angesprochen haben, die durch den herrschenden Wind von der Sowjetunion verfrachtet wurde.“
Atomversuche vor und nach Super-GAU
Wenige Tage davor war - sarkastisch gesprochen - die atomare Welt noch in Ordnung gewesen: Vier Tage vor der Atomkatastrophe zündeten die USA auf ihrem unterirdischen Versuchsgelände in Nevada ihre bereits dritte Atombombe in dem Jahr. Moskau kritisierte den Atombombentest umgehend scharf. Zwei Tage später forderte die Sowjetunion Westeuropa auf, abzurüsten und sich vom Zickzackkurs der USA zu lösen. Und als der Super-GAU nahe Kiew bereits in vollem Gange war - am 27. April - zündete auch Frankreich eine Atombombe auf dem Inselatoll Maori. Mit grafischen Elementen versuchte die Zeit im Bild 2 am 30. April, die Gefahren und Risiken der Radioaktivität in einem Beitrag zu erläutern.
Keine Spur von Panik
Gefahr bestehe nur bei starkem Anstieg der Strahlung und längerer Dauer. Ein interviewter Experte beruhigte. Gefragt, ob Menschen die gemessene Strahlung in Österreich aushalten, betonte er: „Ja, spielend.“
Die Angst vor dem Wetter
Die Berichterstattung drehte sich jedenfalls in diesen Tagen fast ausschließlich um die Reaktorkatastrophe und ihre Folgen. Besonders wichtig in diesen Tagen war der Wetterbericht: Von der Wetterlage hing es entscheidend ab, welche Regionen besonders betroffen sein würden. Am 30. April war die Wettervorschau - für Österreich - günstig, wie der damalige Wetter-Moderator Carl-Michael Belcredi den Zuseherinnen und Zusehern erklärte:
Gute Wetternachrichten für Österreich
„Die Emissionen bleiben meist ortsfest“, erklärte Belcredi am 30. April 1986 die Großwetterlage. „Der Höhepunkt der Strahlenbelastung dürfte vorbei sein.“ Nachsatz: „Zumindest vorerst“.
Minister und Experten beruhigen
Dem damaligen Gesundheitsminister und Ex-ORF-Journalisten Franz Kreuzer warfen Kritiker vor, die Katastrophe zu verharmlosen. „Für die Österreicher besteht kein Grund zur Panik. Die derzeitige Situation verlangt aber höchste Wachsamkeit“, stellte er fest. Die 1.-Mai-Aufmärsche gingen wie geplant über die Bühne.
Tatsächlich trafen auch unglückliche Umstände zusammen: Das Gesundheitsministerium war wenige Tage vor der Reaktorkatastrophe umgesiedelt. „Wir haben unsere Übersiedlungspakete suchen müssen“, erzählte ein damaliger Beamter gegenüber der APA von dem nicht nur durch „Tschernobyl“ ausgelösten Chaos. Kreuzer habe die Katastrophe für sich mit den Worten charakterisiert: „Das ist eine Recherche.“
Und einige Tage später meinte der damalige Seibersdorf-Strahlenschützer Ferdinand Steger beruhigend: „An radioaktivem Cäsium dürften die Österreicher in etwa zwölf Prozent des für die Normalbevölkerung nach der Strahlenschutzverordnung zulässigen Höchstwertes abbekommen haben.“ Ähnlich äußerte sich auch ein Strahlenschutzexperte in einem TV-Beitrag, in dem er, über einen Markt wandernd, alle Lebensmittelkategorien auf ihre Strahlengefährdung besprach.
Radieschen und Co. auf dem „Strahlenprüfstand“
Der Ernährungswissenschaftler Werner Pfannhauser erklärte in der ersten „Wochenschau“ nach der Katastrophe, dass eine akute Gefährdung nicht vorstellbar sei, wiewohl ein „Restrisiko“ bleibe.
Österreich besonders belastet
Im Nachhinein stellte sich freilich heraus, dass Österreich zu den am meisten belasteten Ländern West- und Mitteleuropas gehörte und gehört. Besonders das Salzkammergut, die Welser Heide und die Hohen Tauern sind betroffen. Daneben auch die Niederen Tauern und Südostkärnten.
Auf der Karte können die aktuellen Cäsium-Messwerte in Österreich mit jenen aus dem Jahr 1986 verglichen werden.
Immer wieder gibt es seither Berichte, dass die Reaktorkatastrophe die Zahl der Krebserkrankungen ansteigen ließ. Zuletzt behauptete das ein britischer Experte im März dieses Jahres. Tatsächlich begann die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen vier Jahre nach der Katastrophe zu steigen. Einen eindeutigen Nachweis, dass das eine direkte Folge der Tschernobyl-Katastrophe ist, gibt es allerdings nicht - mehr dazu in science.ORF.at.
Milch, Blattgemüse wie Spinat und Salat und später auch Fleisch durften im Sommer und Herbst 1986 phasenweise nicht verkauft werden, erst im Winter normalisierte sich die Situation langsam. Besonders Lebensmittel, die aus dem Wald kommen - Schwammerln, Wildschwein und anderes Wild - sind auch heute noch deutlich stärker mit Cäsium 137 belastet - mehr dazu in science.ORF.at.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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