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Nur Europäer in Türkei asylberechtigt

Der EU-Türkei Deal, der die Rückführung aller Flüchtlinge, die nach dem 20. März eintreffen, aus Griechenland in die Türkei vorsieht, zeigt Wirkung: Waren an manchen Tagen im Februar noch mehr als 3.000 Menschen über die Ägäis geflohen, so sind es derzeit im Schnitt weniger als 100 am Tag.

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Damit scheint eine Route zunehmend versperrt, über die in den vergangenen 15 Monaten etwa eine Million Menschen in die EU gelangten. Dass alle Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschickt werden sollen, sorgt für scharfe Kritik. Menschenrechtsorganisationen bezweifeln, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat ist und Flüchtlinge auf umfassenden Schutz nach internationalem Recht hoffen können.

Türkische Besonderheit

Rechtlich gesehen bewegen sich Flüchtlinge in der Türkei tatsächlich auf unsicherem Boden. Die Türkei hat als einziges Land die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 mit einem geografischen Vorbehalt unterzeichnet und ratifiziert. Das führt zu einem rechtlichen Kuriosum: Einzig Europäer können in der Türkei um Asyl ansuchen und als Flüchtling anerkannt werden. Menschen aus dem Irak, aus Afghanistan und aus Pakistan haben diese Möglichkeit rechtlich nicht.

Das gilt auch für Syrer, die in der Türkei ebenfalls kein Asyl beantragen können, zumindest nicht für die Türkei. Sie können lediglich wie alle anderen Flüchtlinge auch beim UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in der Türkei einen Antrag auf Flüchtlingsstatus und damit Asyl für ein Land außerhalb der Türkei beantragen, etwa für ein europäisches Land, die USA, Australien oder Kanada.

Leben im Dauerprovisorium

Am Grenzübergang Öncüpinar leben derzeit 15.000 Flüchtlinge. Es ist eines der am besten augestatteten Lager. Das Leben ist trotzdem improvisiert, zeigt ein Lokalaugenschein von ORF-Korrespondent Jörg Winter.

Ein Recht, das es de facto nicht gibt

Die Wartezeit allein auf einen Termin zum Vorsprechen beträgt derzeit Jahre. 2015 wurden lediglich 459 solcher Interviews durchgeführt. Das System ist überfordert und funktioniert nicht. Nur die wenigsten werden mit diesem Programm auf Länder außerhalb der Türkei aufgeteilt.

Mehr Flüchtlinge als Einwohner

In unmittelbarer Nähe der syrischen Grenze liegt die Stadt Kilis. Sie hat 100.000 Einwohner - und 120.000 syrische Flüchtlinge. Direkt vor der Stadt ist das Lager Öncüpinar, das derzeit mit Geld aus Kuwait erweitert wird. Es gibt Schulen und Kindergärten. Eingekauft wird per Chipkarte, die monatlich mit umgerechnet 26 Euro pro Person beladen wird.

Die Türkei gesteht Syrern allerdings ein temporäreres Bleiberecht zu - und tatsächlich hat Ankara die vor den Kriegswirren flüchtenden Menschen jahrelang großzügig aufgenommen. Mit offiziell 2,7 Millionen befinden sich in der Türkei fast dreimal so viele syrische Flüchtlinge wie in der gesamten EU.

Sie haben Anspruch auf Sozialleistungen, können in Krankenhäusern gratis behandelt werden, ihre Kinder in die Schule schicken und mittlerweile auch legal arbeiten. Gerade Letzteres wird auch in Europa von vielen Experten als Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen gefordert - von Politikern aber meist strikt abgelehnt.

Viele Hürden im Alltag

Der Alltag der syrischen Flüchtlinge in der Türkei sieht allerdings anders aus: Hunderttausende Kinder gehen nicht in die Schule, weil ihre Eltern sie nicht schicken oder es ganz einfach an arabischsprachigen Lehrern mangelt. Unternehmensvertreter berichten von einem behördlichen Spießrutenlauf, wenn es darum geht, syrische Flüchtlinge legal zu beschäftigen. Ein österreichischer Unternehmensvertreter in Istanbul schilderte gegenüber dem ORF, dass es trotz der Einschaltung von Anwälten praktisch unmöglich war, eine klare Auskunft über die Regeln zur Anstellung syrischer Staatsbürger zu erhalten.

Flüchtlingslager in der Türkei

APA/AFP/Mujahed Abul Joud

Die Menschen müssen unter schwierigsten Bedingungen - und ohne konkrete Hoffnung auf Besserung der Lage - ausharren

Eine 2014 von der Regierung verabschiedete Direktive verbietet die Abschiebung syrischer Staatsbürger in ihre Heimat. Human Rights Watch und Amnesty International legten aber jüngst Dokumente vor, die belegen sollen, dass in den vergangenen Monaten bis zu hundert Personen täglich gegen ihren Willen nach Syrien abgeschoben wurden. Ob die Zahlen stimmen, lässt sich nicht unabhängig bestätigen. Ankara wies die Vorwürfe jedenfalls zurück.

Weniger Rechte für andere Flüchtlinge

Alle Sonderregeln, die für syrische Flüchtlinge gelten, kommen bei Menschen aus Afghanistan, dem Irak, Pakistan und Bangladesch nicht zur Anwendung. Eine individuelle Überprüfung der Schutzgründe von aus Griechenland in die Türkei zurückgeschobenen Menschen scheint unwahrscheinlich. Die meisten werden wohl ohne weitere Verfahren abgeschoben.

Daran lässt auch der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu keinen Zweifel: „Wir haben heute alle Migranten, die nicht aus Syrien kommen, in ein Rückschiebelager geschickt. Diese Personen werden in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt, mit denen wir Rückführungsabkommen haben“, sagte Davutoglu am Tag, als die Abschiebungen aus Griechenland begannen. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass etwa die Zwangsrückführung von Irakern und Afghanen aufgrund der prekären Sicherheitslage in mehreren Regionen dieser Länder äußerst problematisch sei.

Verstärkter Grenzschutz

Die Türkei versucht unterdessen, ihre Grenze im Osten stärker abzusichern. Die Kontrollen entlang der Grenze zum Irak und dem Iran wurden verstärkt. Zäune und Mauern entstehen entlang des Grenzstreifens zu Syrien. Die Befestigungen sollen laut Ankara in erster Linie das Einsickern von Terroristen und Kämpfern in die Türkei verhindern. Damit ist nicht nur die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gemeint, sondern auch die syrisch-kurdische PYD, die als Schwesterorganisation der türkischen PKK gilt. Gegen die meist jungen Kämpfer der Terrororganisation führt der türkische Staat seit vergangenem Sommer neuerlich einen blutigen Krieg.

Flüchtlinge werden von türkischem Schiff gebracht

Reuters/Murad Sezer

Nach dem gescheiterten Versuch, nach Griechenland überzusetzen, werden Flüchtlinge von der türkischen Küstenwache ins Auffanglager Dikili gebracht

Offene Tür nur noch auf dem Papier

Offiziell hält die Türkei an ihrer Politik der offenen Tür für syrische Flüchtlinge fest. Die Realität sieht freilich anders aus. ORF-Recherchen vor wenigen Tagen an der türkisch-syrischen Grenze zeigten, dass es für Syrer, die noch nicht in der Türkei als Flüchtlinge registriert sind, derzeit praktisch unmöglich ist, die Grenze in die Türkei zu passieren.

Darauf angesprochen bestätigte der Gouverneur der Grenzprovinz Kilis, Süleyman Tapsiz, dass es das Ziel sei, die Menschen möglichst auf der syrischen Seite der Grenze in Lagern zu versorgen. Für Journalisten sind diese Lager, die sich in Sichtweite der Grenze befinden, nicht zu besichtigen.

„Wollen gar nicht in Türkei“

Im Abstand von nur drei bis fünf Kilometern befinden sich derzeit zehn Camps mit mehr als 100.000 Insassen, die von der Türkei aus versorgt werden. Weitere Camps werden gerade errichtet: „Diese Menschen wollen gar nicht in die Türkei, sie wollen lieber in ihrer syrischen Heimat, natürlich an einem sicheren Ort, bleiben“, sagte Gouverneur Tapsiz im ORF-Interview. Sollte es aufgrund der Sicherheitslage notwendig werden, dann werde man diese Menschen allerdings in die Türkei holen, so auch Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Der syrische Bürgerkrieg dauert nun bereits mehr als fünf Jahre. Mehr als 2,7 Millionen registrierte Flüchtlingen aus Syrien leben offiziell in der Türkei. Sie haben kein Anrecht auf Asyl, werden aber als Gäste geduldet. Allerdings scheint die sprichwörtliche anatolische Gastfreundschaft zunehmend ausgereizt, auch weil der türkischen Bevölkerung mittlerweile klar wird, dass viele der syrischen Gäste das Land wohl nie wieder verlassen werden.

Jörg Winter, ORF, aus Istanbul

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