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Angeklagt in elf Punkten

21 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica wird das UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) in Den Haag am Donnerstag das Urteil über den früheren bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadzic fällen. Er gilt als Inbegriff der gescheiterten großserbischen Idee. Obwohl ihm neben Völkermord weitere Kriegsverbrechen angelastet wurden, ist er bis heute von seiner „gerechten Sache“ überzeugt.

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Im Prozess gegen den 70-jährigen Karadzic geht es nicht nur um Srebrenica, wo im Juli 1995 rund 8.000 bosniakische (muslimische) Männer und Buben von bosnisch-serbischen Truppen ermordet und in zahlreichen Gräbern in der Umgebung der ostbosnischen Kleinstadt begraben worden waren. Es geht auch zum ersten Mal um den Völkermord in sieben weiteren bosnischen Gemeinden: Kljuc, Sanski Most, Prijedor, Vlasenica, Foca, Zvornik und Bratunac.

Der ehemalige bosnisch-serbische Präsident war im Jahr 1995 wegen Kriegsverbrechen angeklagt worden. Nach Kriegsende war Karadzic untergetaucht und erst im August 2008 in einem städtischen Bus in Belgrad festgenommen worden. In der serbischen Hauptstadt war er unter dem Namen „Dragan Dabic“ als Heilpraktiker tätig, verfasste Artikel und hielt sogar Vorträge.

Berufung auf Straffreiheit

Nach der Festnahme versuchte Karadzic zuerst seine Freilassung unter Berufung auf die Straffreiheit zu bewirken, die ihm im Jahr 1996 angeblich vom damaligen US-Sonderbeauftragten für den Balkan, Richard Holbrooke, zugesichert worden war, sollte er sich aus der Politik zurückziehen. Holbrooke bestritt diese Behauptungen.

Radovan Karadzic

AFP/Michael Kooren

Radovan Karadzic vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag 2013

Karadzic nahm laut der Elfpunkteanklage alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen an Straftaten teil, die zum Ziel hatten, die Kontrolle über jene Regionen Bosnien-Herzegowinas zu sichern, die zum Bestandteil der Republika Srpska erklärt worden waren. Um diesen Plan umzusetzen, wurden von der Führung der bosnischen Serben Verfahrensweisen umgesetzt, die die Schaffung unmöglicher Lebensbedingungen, Vertreibungen und Terror beinhalteten.

Geiselnahme von UNO-Personal

Der Plan habe auch die Zwangsumsiedlungen und die Tötung jener Menschen vorgesehen, die nicht freiwillig gehen wollten, hieß es in der Anklage. Karadzic wurde aufgrund seiner individuellen Verantwortung sowie seines damaligen Amtes des Völkermordes, der Komplizenschaft am Völkermord und der Ausrottung beschuldigt. Auch werden ihm Morde, absichtliche Tötungen, Vertreibungen, Deportationen und unmenschliche Taten sowie Geiselnahmen angelastet.

In der Anklage war von Morden an Tausenden bosnischen Muslimen und Kroaten, Zwangsumsiedlungen Tausender Menschen, dem Massaker an den Einwohnern Srebrenicas, rücksichtslosem Beschuss von Städten (darunter Sarajevo), unmenschlicher Behandlung und Folter von Muslimen und Kroaten sowie sonstigen Nicht-Serben die Rede. Auch die Geiselnahme von UNO-Personal im Mai und Juni 1995 fand ihren Platz in der Anklage.

800 Seiten langes Schlussplädoyer

Allein während des 44-monatigen Beschusses der bosnischen Hauptstadt wurden etwa 10.000 Zivilisten, darunter rund 1.600 Kinder, getötet. Die Ankläger des UNO-Kriegsverbrechertribunals forderten in dem 800 Seiten langen Schlussplädoyer eine lebenslange Haftstrafe für den Angeklagten. Sie stellten unter anderem fest, dass Karadzic ein „Lügner“ und „Mafioso“ und außerdem „die treibende Kraft“ hinter der „Politik der ethnischen Säuberung“ im Bosnienkrieg gewesen sei.

Schlimmstes denkbares Verbrechen

Völkermord (auch Genozid) ist der Rechtsbegriff für das schlimmste denkbare Verbrechen - Handlungen mit dem Ziel, ein Volk, eine Ethnie oder eine Glaubensgemeinschaft zu vernichten. Das Massaker von Srebrenica, bei dem 1995 etwa 8.000 muslimische Buben und Männer ermordet wurden, wird von internationalen Strafrechtlern als Genozid eingestuft.

Karadzic, der sich mit Hilfe eines internationalen Rechtsberaterteams selbst verteidigte, plädierte auf Freispruch, räumte allerdings seine „moralische Verantwortung“ für die im „schrecklichen“ Krieg von serbischen Truppen begangenen Kriegsverbrechen ein. Es gebe aber „keinen einzigen Beweis“ dafür, dass er Verbrechen angeordnet habe, worauf er bis zuletzt beharrte.

„Radovan bereut nichts“, sagte hingegen dessen Nachfolgerin an der Spitze des serbischen Teilstaates, Biljana Plavsic, am Donnerstag der größten serbischen Zeitung „Blic“. Der Schaffung eines großserbischen Staates auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien habe Karadzic alles untergeordnet. Und so sind für ihn die Kriegsgräuel zu akzeptierende „Kollateralschäden“ geblieben.

„Das Alpha und Omega in Bosnien“

Dem Internetportal Balkan Insight hatte Karadzic am Vorabend der Urteilsverkündung gesagt, dass ihn „kein vernünftiges Gericht“ verurteilen könne. Das UNO-Tribunal müsse sich nämlich der Befugnisse, Fähigkeiten und Beschränkungen des von ihm ausgeübten Präsidentenamtes bewusst sein und sich von der Wahrheit und Gerechtigkeit leiten lassen.

Zahlreiche Opfervertreter wollen der Urteilsverkündung am Donnerstag beiwohnen. Sie alle fordern die Höchststrafe für den früheren bosnischen Serbenführer. „Karadzic war das Alpha und Omega in Bosnien. Er und Ratko Mladic (der frühere bosnisch-serbische Militärchef, Anm.) müssen die höchste Strafe erhalten“, sagte etwa Munira Subasic vom Verband „Mütter der Enklaven Srebrenica und Zepa“ vor der Abreise nach Den Haag.

Zwei Millionen Menschen vertrieben

Insgesamt kamen im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 etwa 100.000 Menschen ums Leben, mehr als zwei Millionen wurden vertrieben. Seit dem Kriegsende wurden mehr als 7.100 Leichen der Opfer des Massakers gefunden. Nach mehr als 1.000 Opfern, darunter auch zahlreiche ehemalige Bewohner Srebrenicas, wird weiter gesucht.

Rechenschaft „für Leid des eigenen Volkes“

UNO-Chefankläger Serge Brammertz gab indes zu Protokoll, dass Kriegsverbrecher auch nach vielen Jahren noch zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Obwohl der Prozess gegen Karadzic sehr lange gedauert habe, sei es „nie zu spät“ für ein Urteil, sagte der belgische Jurist.

Das Haager Tribunal habe „viele wichtige Prozesse“ geführt und „viele wichtige Urteile“ gefällt, so Brammertz. Das Urteil gegen Karadzic sei aber „eines der wichtigsten in der Geschichte des Tribunals“. Es beweise, dass Politiker „für das Leid des eigenen Volkes“ zur Rechenschaft gezogen würden.

Del-Ponte-Sprecherin festgenommen

Im Vorfeld des Prozesses kam es zu einer Verhaftung. Das Tribunal ließ seine ehemalige Sprecherin Florence Hartmann festnehmen. Wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten, nahmen Wachleute des Tribunals die Französin vor dem Gerichtsgebäude fest. Sie wehrte sich schreiend, wurde aber von zwei Wachleuten in das Gerichtsgebäude gezerrt.

Das Tribunal hatte Hartmann, die der ehemaligen UNO-Chefanklägerin Carla del Ponte zwischen 2000 und 2006 als Sprecherin diente, im Jahr 2009 zu einer Geldstrafe von 7.000 Euro verurteilt. Zur Begründung hieß es seinerzeit, Hartmann habe „wissentlich vertrauliche Informationen“ des Haager Gerichts für weitergegeben.

Weil Hartmann das ihr auferlegte Bußgeld nicht bezahlte, verurteilten die Haager Richter sie in einem weiteren Verfahren im Jahr 2011 zu einer siebentägigen Haftstrafe. Sie wiesen die französischen Behörden an, Hartmann zu verhaften. Das Außenministerium in Paris lehnte das ab.

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