Miteinander statt in Parallelgesellschaft
Über 500 Menschen sind aus Belgien bisher nach Syrien und in den Irak gezogen, um dort für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu kämpfen. Die Zahl der Ausreisen nimmt derzeit eher ab - dass das unbedingt ein gutes Zeichen ist, wagen viele zu bezweifeln. Denn der Zulauf zu den Islamisten ist nach wie vor ungebrochen - die Anschlagsgefahr in Europa bleibt daher laut aktuellen Warnungen auch hoch.
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Das Vorgehen der Politik ist rigoros: Razzien, Festnahmen, Überwachung von Moscheen und die massive Aufstockung der Polizei- und Sicherheitskräfte. Dieser Kampf gegen den Terror hat oberste Priorität - und ist trotzdem nicht das einzige Mittel, wie man der steigenden Gefahr durch Islamisten beikommen kann. Davon ist zumindest Bart Somers, Bürgermeister der Stadt Mechelen nahe Brüssel überzeugt. Er ist sich dessen bewusst, dass auch seine Gemeinde eine jener ist, die ohne Gegenmaßnahmen zu einem Brennpunkt werden könnte.

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Die Demografie Mechelens ähnelt jener der Brüsseler Problembezirke, aber auch der von Städten im Umland wie Antwerpen und Vilevoorde: Die Bevölkerungszahl ist steigend, genauso aber auch die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen. Die meisten davon sind Kinder von Eltern, die aus den Maghreb-Staaten eingewandert sind.
Jugend mit wenigen Perspektiven
„Es fehlte vielen von uns an Perspektiven,“ beschreibt der 26-jährige Moad El Boudaati aus Vilvoorde im Gespräch mit ORF.at. „Wir haben nicht recht viel gemacht, wir haben uns auf der Straße getroffen und sind dort herumgehangen.“ Selbst in der zweiten Generation leben vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund in manchen Bezirken oder Städten in einer Parallelgesellschaft. Das gilt sowohl für das frankofone Wallonien als auch im niederländischsprachigen Flandern.
Antworten auf die Fragen, die sie sich bei ihrer Identitätssuche gestellt hätten, hätten sie kaum gefunden. Viele seiner Freunde seien von den radikalen Ideen der Islamisten begeistert gewesen, sagt El Boudaati. „Endlich war da jemand, der sich mit ihnen auseinandergesetzt hat, der ihnen das Gefühl gab, jemand zu sein, irgendwo dazuzugehören.“

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Mechelen liegt rund 30 Kilometer nördlich von Brüssel
„Viele Jugendliche wollten Antworten, sie haben vom Heiligen Krieg gehört, vom Dschihad. Aber in der Moschee hat man immer abgeblockt: ,Das ist zu gefährlich. Was redet ihr da, davon wollen wir nichts wissen. Die Geheimdienste überwachen uns, wenn wir über den Dschihad sprechen, dann sperren sie die Moschee zu‘," erzählt El Boudaati, der selbst Politikwissenschaft studierte und heute Sozialarbeiter ist, die damalige Haltung der islamischen Gemeinde in Vilvoorde.
Mechelen und der Kampf um die Inklusion
Der Bürgermeister von Mechelen, einer hübschen flämischen Stadt mit großem historischen Kern, sagt, er habe die Gefahr „verhältnismäßig früh“ erkannt. Seine Gemeinde präsentiert er gerne als Best-Practice-Beispiel für Radikalisierungsprävention. Auch hier hat gut ein Drittel der Einwohner Migrationshintergrund, bei den unter 24-Jährigen ist es fast die Hälfte, ein Viertel davon ist arbeitslos.
Anders als in Vilvoorde und Antwerpen ist aus Mechelen aber bisher niemand in den Krieg gezogen, erzählt Somers stolz. Das führt er auf die Präventionspolitik der Stadt zurück: „Es ist besser, vorausschauend zu denken als zu versuchen, Menschen zu entradikalisieren“, sagt Somers. „Wir müssen eine Inklusionskultur schaffen, in der sich alle als Bürger der Stadt fühlen.“
„Es ist keine Frage der Religion“
Schon vor einigen Jahren begann Somers, ein Netzwerk aufzuziehen, das der Radikalisierung auf verschiedenen Ebenen begegnen soll. Die Prävention sei „ein Kampf um die Köpfe und Herzen“ der jungen Muslime, sagt der Bürgermeister. Ein Kampf, den in seiner 84.000-Einwohner-Gemeinde derzeit vier Mitarbeiter in Kooperation mit speziell geschulten Polizisten führen. Man setzt dabei auch auf Zusammenarbeit mit den Schulen, Sport- und Jugendclubs sowie den Moscheen. „Es ist keine Frage der Religion, es ist eine Frage der Ideologie - zwischen Menschen, die an Demokratie, und Menschen, die an totalitäre Systeme glauben.“ Denn: Nicht nur Islamismus, sondern auch Rechtsradikalismus sei ein Problem, dessen man sich bewusst sei.

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Für Bürgermeister Somers ist es ein „Kampf um die Köpfe und Herzen“
Gemeinsam mit den Bürgermeistern von Vilvoorde und Antwerpen gründete Somers 2013 eine Arbeitsgruppe zur Präventionsarbeit. Die Stadt Vilvoorde arbeitet mittlerweile nach einem ähnlichen Konzept wie Mechelen. Jessika Soors, studierte Arabistin und Islamwissenschaftlerin koordiniert die Antiradikalisierungsarbeit der Gemeinde unmittelbar nördlich von Brüssel. „Die sozialen Auswirkungen in der Heimatstadt, wenn jemand in den Dschihad zieht, sind enorm: Das betrifft nicht nur die Eltern und Familien, das zieht Kreise in den Schulen und darüber hinaus“, erklärt Soors gegenüber ORF.at.
„Überwachung von Moscheen reicht nicht“
„Wir mussten quasi aus dem Nichts Strukturen schaffen. Diesen Nachteil haben wir aber auch als Chance gesehen. Die wichtigste Voraussetzung für die Prävention von Radikalisierung ist es, möglichst viele Menschen zu erreichen,“ so Soors.
„Man darf nicht glauben, dass es funktioniert, wenn man gut mit den Moscheen zusammenarbeitet oder wenn man sie überwacht. Das ist ein Irrglaube, dass man damit schon die muslimische Community erreicht hat.“ Denn, das zeigt auch die Statistik, von den Islamisten angeworben und überzeugt werden können oft vor allem Jugendliche, die gar nicht besonders religiös aufgewachsen sind, einige davon sind Konvertiten. „Wir müssen so präsent wie möglich sein: in Schulen, Freizeiteinrichtungen, bei der Zusammenarbeit mit Eltern und Lehrern.“
„Mama, ich tue das für dich“
Für Fatima (ihren Nachnamen will sie nicht veröffentlichen lassen) kommen diese Initiativen zu spät. Ihr Sohn ist vor zweieinhalb Jahren 18-jährig nach Syrien aufgebrochen. Von einem Tag auf den anderen, wie sie gegenüber ORF.at erzählt. Hätte sie eine Ahnung gehabt, sie hätte ihn eigenhändig ins Gefängnis gesteckt. Woher er die radikalen Ideen hat, ist ihr bis heute ein Rätsel - die Familie sei gläubig, aber nicht streng religiös.
Selbst wirkt Fatima, die im Alter von vier Jahren aus Marokko nach Belgien gekommen ist, wie eine gut integrierte, moderne Frau. Eine Antwort auf die Frage, wieso ihr Sohn in den Dschihad gezogen ist, sucht sie bis heute vergeblich. Selbst habe er gesagt: „Mama, ich tue das für dich. Wenn ich für Allah sterbe, dann wirst du durch mich in den Himmel kommen.“
„Kurzfristige Initiativen sind ein Fehler“
Mütter wie Fatima und ihre Familien werden in Antwerpen und Vilvoorde langfristig von Sozialarbeitern und Psychologen betreut. Ein Fehler, der laut Expertin Soors zu häufig gemacht werde, sei es, kurzfristige Initiativen zu starten, die dann im Sand verliefen: „Man muss schon bereit sein, in langfristige Projekte zu investieren“, so Soors, sonst verliere man an Glaubwürdigkeit und Vertrauen, und damit zwei der wichtigsten Voraussetzungen für eine nachhaltige Präventionsarbeit.
„Wenn wir jetzt auf die Straße gehen, weil der politische Druck da ist, und mit Antiradikalisierungsarbeit anfangen, dann werden wir gefragt: ‚Was, jetzt seit ihr da und wollt mit uns über Islamismus reden? Was ist mit unseren Problemen? Wer interessiert sich für das, was uns beschäftigt?‘“ Gefragt sei daher ein umfassendes Konzept, das möglichst viele Menschen in ein aktives Gemeindeleben einbindet und sich um ihre Probleme kümmert.
„Macht, was ihr könnt, wo ihr es könnt“
Seit Mai 2014 sei aus Vilvoorde niemand mehr in den Dschihad gezogen. „Wir wollen glauben, dass das auch unser Verdienst ist“, sagt Antiradikalisierungsbeauftragte Soors. Aber der Anteil daran sei natürlich schwer messbar. Es sei ja auch in der Zwischenzeit weitaus schwieriger geworden, nach Syrien zu reisen, Berichte über die Kämpfe seien weitaus detaillierter geworden, und die romantische Vorstellung vom Leben im „Islamischen Staat“ sei nur noch recht schwer zu glauben. Das seien auch Gründe dafür, dass sich die Strategie des IS geändert habe, analysiert die Antiradikalisierungsbeauftragte: „Die sagen nicht mehr: ‚Kommt nach Syrien.‘ Sie sagen: ‚Macht, was ihr könnt, wo ihr es könnt.‘“
Die Anschläge in Paris im Vorjahr seien ein Beispiel dafür. Der Druck von ganz oben steigt damit in allen belgischen Problemstädten und -bezirken: Prävention ist gut, schön und notwendig, betont der belgische Innenminister Jan Jambon immer wieder. Er setzt bei den nach den Pariser Anschlägen getroffenen Maßnahmen, deren Kernstück der Umbau und die Aufstockung der Polizei sind, aber deutlich mehr auf Repression und Überwachung: „Ich will, dass man weiß, wer in Bezirken wie Molenbeek wohnt und in welchem Haus.“ Verstärkten Druck und härtere Strafen findet auch Mechelens Bürgermeister Somers wichtig. „Aber die Antwort auf die Radikalisierung ist Prävention. Jeder der hier in Mechelen lebt, muss sich als Bürger der Stadt ernstgenommen und mitverantwortlich fühlen.“
Sophia Felbermair, ORF.at, aus Brüssel
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