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„Das dauert ein bisschen länger“

Seit Sonntag, 0.00 Uhr, ist der Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei offiziell in Kraft. Der Pakt sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die ab heute von der Türkei nach Griechenland übersetzen, ab Anfang April zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden. Von den griechischen Inseln Lesbos und Chios wurden als Vorbereitung dafür bereits Hunderte Flüchtlinge in die Hafenstadt Piräus gebracht.

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640 Schutzsuchende seien am späten Samstagabend beim Hafen angekommen. Weitere 2.000 Menschen sollten am Sonntag von den Inseln auf das Festland gebracht werden, berichtete der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ebenfalls am späten Samstagabend übernahm Ministerpräsident Alexis Tsipras die Aufsicht über das neue Flüchtlingsprogramm und den in der Flüchtlingskrise eingeführten Krisenstab, wie die Regierung nach einer Krisensitzung mitteilte.

Erster Bericht von Krisenstab erwartet

Mit Spannung wurde der erste Bericht des Krisenstabes über die Zahl der Menschen erwartet, die nach Inkrafttreten des Flüchtlingspakts nach Griechenland übersetzten. Mit der Umsetzung der Vereinbarungen dürfte es zunächst hapern, unter anderem wegen Personalmangels. Tsipras hatte beim EU-Türkei-Gipfel von 2.300 Experten gesprochen, die in den nächsten Tagen nach Griechenland kommen sollen, um dabei zu helfen, im Schnellverfahren Asylanträge zu bearbeiten.

Flüchtlinge in Piräus

APA/AP/Yorgos Karahalis

Flüchtlinge bei ihrem Eintreffen in Piräus am Samstag

Das Inkrafttreten des Deals ist damit vorerst größtenteils ein Papiertiger. Nicht nur Griechenland fehle es an Personal - auch türkische Beamte seien noch nicht für die Bearbeitung der Fälle abgestellt, Einzelheiten der geplanten Rückführung von Flüchtlingen seien unbekannt, hieß es in Athen. Nach Einschätzung der EU-Kommission benötigt Griechenland zur Umsetzung des Übereinkommens schnell Hunderte Asylexperten, Dolmetscher und Richter aus anderen EU-Staaten.

5.550 Experten benötigt

Insgesamt muss die EU laut Schätzungen der Kommission 4.000 geschulte Sachbearbeiter nach Griechenland entsenden, damit Europa seine Seite des Deals erfüllen kann. Für die eigentlichen Rückführungen brauche es weitere 50 Experten der EU-Grenzschutzbehörde und 1.500 Polizeikräfte. Es gibt noch keine innereuropäische Abmachung dafür, wer wie viel Personal auf welche Weise bereitstellt, geschweige denn konkrete zwischenstaatliche Abmachungen zur Regelung der verwaltungsrechtlichen Abläufe.

Der Pakt sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die ab Sonntag illegal von der Türkei nach Griechenland übersetzen, ab Anfang April zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden. Vorher haben die Flüchtlinge jedoch das Recht auf eine Einzelfallprüfung im EU-Land Griechenland. Nur wer nachweisen kann, dass er in der Türkei verfolgt wird, darf bleiben. Dies dürfte aber nur für wenige gelten. Etwa die Hälfte der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge sind Syrer.

Hunderte vor Italien aus Seenot gerettet

Laut Giorgos Kyritsis, dem griechischen Regierungskoordinator für Einwanderungspolitik, stellte das griechische Kabinett am Samstagnachmittag zwar einen Plan auf, „aber de facto braucht man Strukturen, das Personal muss vorbereitet sein, und das dauert ein bisschen länger als 24 Stunden.“ Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückkehrt, will die EU einen Syrer aus der Türkei aufnehmen. Unklar ist aber auch die Verteilung der Menschen in der EU, da viele Mitgliedsländer kaum oder gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.

Flüchtlinge in einem verlassenen Haus in Cesme

APA/AFP/Ozan Kose

Flüchtlinge nutzen eine verlassene Hütte an der türkischen Küste als Unterkunft

Vor den Küsten Italiens und Libyens sind unterdessen am Samstag insgesamt rund 1.500 Flüchtlinge aus Seenot gerettet worden. Die italienische Küstenwache sprach von 910 Menschen, die bei vier unterschiedlichen Einsätzen in Sicherheit gebracht worden seien. Ein Mensch konnte den Angaben zufolge nur noch tot geborgen werden. Die libysche Marine sprach von vier geborgenen Frauenleichen und einer unbekannten Zahl von Vermissten nach dem Sinken eines Flüchtlingsbootes.

Europa sieht sich mit der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Seit Anfang 2015 sind mehr als 1,2 Millionen Menschen angekommen, die meisten davon aus Afrika und dem Nahen Osten. Die EU fürchtet jetzt auch einen massiven Flüchtlingszustrom aus dem politisch instabilen Libyen. Zudem warnen Hilfsorganisationen, dass Schutzsuchende nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Pakts wieder die noch lebensgefährliche Mittelmeer-Route nach Italien wählen könnten, um vor Krieg, Verfolgung und Armut zu flüchten.

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