Rechtsstaat für Erdogan „kein Wert“
Angesichts des Konflikts mit der kurdischen Bevölkerungsgruppe und immer mehr Terrorismus von radikalen kurdischen Splittergruppen verstärkt die Türkei auch massiv den Druck auf gemäßigte Kurdenvertreter und deren Sympathisanten. Präsident Recep Tayyip Erdogan rechnet sich nun Chancen aus, die ihm unliebsame Immunität kurdischer Parlamentsabgeordneter aufheben zu können.
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Erst am Mittwoch hatte Erdogan das Parlament dazu aufgerufen, die Immunität prokurdischer Abgeordneter „rasch“ aufzuheben. Er warf ihnen vor, „zu Terrorismus“ anzustacheln. Unterdessen läuft eine Festnahmewelle gegen Anwälte, Universitätsprofessoren und andere Intellektuelle. Kritische ausländische Journalisten und andere Bürger, die mit dem kurdischen Anliegen sympathisieren, werden zum Verlassen des Landes gezwungen.
Aufschrei von Menschenrechtlern
Dass die Maßnahmen mit einer Demokratie nicht vereinbar sind, verhehlt Erdogan gar nicht. Er erklärte, er wolle demokratische Werte dem Kampf gegen den Terrorismus unterordnen. Mit Blick auf Forderungen nach „Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“ in der Türkei sagte Erdogan am Mittwoch in Ankara: „Ich sage es offen: Für uns haben diese Begriffe absolut keinen Wert mehr. Der, der im Kampf gegen den Terror auf unserer Seite steht, ist unser Freund. Der, der auf der anderen Seite steht, ist unser Feind.“
Erdogan bekräftigte außerdem seinen Ruf nach einer breiteren Definition „terroristischer Verbrechen“, damit Politiker, Intellektuelle und Journalisten strafrechtlich belangt werden können. Terroristen seien „nicht nur diejenigen mit einer Waffe in der Hand“, sondern auch Journalisten, die ihre Anliegen unterstützten, sagte Erdogan. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilte die Festnahmen indes als Teil einer „boshaften Kampagne“ Erdogans, die darauf abziele, seine Kritiker „mundtot“ zu machen.
„Nicht länger legitime politische Akteure“
Ein Parlamentsausschuss prüft derzeit die Aufhebung der Immunität von fünf Politikern der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), unter ihnen die beiden Kovorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Ihnen wird „Propaganda“ für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. „Ich betrachte die Mitglieder einer Partei, die als Ableger einer terroristischen Organisation fungieren, nicht länger als legitime politische Akteure“, sagte Erdogan.
Sollte den Abgeordneten die Immunität entzogen werden, könnte ihnen wegen ihrer Forderung nach Autonomie für die türkischen Kurdengebiete der Prozess gemacht werden. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erweiterte den Vorstoß Erdogans einen Tag später noch einmal und versuchte zugleich zu vermitteln: Es lägen zurzeit 506 Anträge auf Aufhebung der Immunität von Abgeordneten vor, sagte er nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag. Das türkische Parlament hat 550 Sitze.
Auch AKP-Abgeordnete bald vor Gericht?
Die Immunität aller betroffenen Parlamentarier solle „auf einen Schlag“ aufgehoben werden. Dazu sollte vorübergehend eine Sonderregelung in der Verfassung eingeführt werden, forderte Davutoglu. Der Vorschlag war zuerst von der größten Oppositionspartei CHP und der prokurdischen HDP gekommen. Sie werfen den Abgeordneten von Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP unter anderem Korruption vor. Mit Aufhebung der Immunität könnten Ermittlungen auch gegen die AKP-Abgeordneten eingeleitet werden.
Neben dem Streit über die kurdischen Abgeordneten setzt die Regierung aber auch die Repressionen gegen jene fort, die sich explizit für gewaltfreien Widerstand und eine Beilegung des Konflikts ohne militärische Mittel einsetzen. Im Jänner hatten insgesamt rund 1.200 Wissenschaftler eine Petition unterzeichnet, in der ein Ende des türkischen Militäreinsatzes in den Kurdengebieten gefordert wurde. Immer mehr Unterzeichner werden nach und nach verhaftet und/oder verlieren ihren Beruf.
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