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Extremisten „aufgeblüht“

Die Angriffe von Dschihadisten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf Ben Guerdan in Tunesien an der Grenze zu Libyen im März haben es erneut gezeigt: Die in Libyen erstarkten Extremisten versuchen ihre Aktivitäten auf Nachbarländer auszuweiten. Der Aufstieg des libyschen IS-Ablegers kommt wenig überraschend.

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Die innenpolitische Lage in Libyen fünf Jahre nach dem internationalen Militäreinsatz 2011 und dem damit verbundenen Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi bietet Extremisten allen Raum, den sie für eine Ausweitung der Einflusssphäre brauchen. Denn seit der Entmachtung Gaddafis wird das Land von zwei konkurrierenden Milizen beherrscht. Sie ringen neben zwei rivalisierenden Regierungen und Parlamenten in der Hauptstadt Tripolis und dem ostlibyschen Tobruk um die Macht.

Vom Aufbruch zum Zerfall

Um diese Situation nachvollziehen zu können, reicht ein kurzer Blick zurück: Nach dem Sturz des Regimes 2011 hatte im Land eine allgemeine Aufbruchsstimmung geherrscht, eine internationale Friedensmission gab es nicht. Die Politik des Übergangs konnte nicht nachhaltig gestaltet werden, dazu fehlte es der neuen politischen Elite an Rückhalt und Durchsetzungsvermögen. Die Relikte des Gaddafi-Regimes waren auf diese Weise nicht aufzuarbeiten. Zudem konnten die zahllosen, jahrhundertelangen Stammeskonflikte nicht beigelegt werden.

Jubelnde Menschen

Reuters/Ismail Zetouni

Die Revolutionsfeiern täuschen über die Zerrissenheit des Landes hinweg

Gesetz mit Folgen

Grundlegend problematisch war das 2013 verabschiedete „Political Isolation Law“: es schloss alle Personen, die eine Rolle während der Regentschaft Gaddafis eingenommen hatten, grundsätzlich von jeglicher politischen Tätigkeit aus. Das traf teils kompetente Politiker, die eigentlich eine Stütze des Demokratisierungsprozesses im Land hätten sein sollen. Islamistische Gruppen waren unter den Hauptbetreibern dieses Gesetzes - die Spaltung des Landes hatte ihren Ausgang genommen.

Milizen konnten nicht entwaffnet werden, bei Wahlen 2014 wurde ein Parlament gewählt, dass infolge einer Wahlannullierung keinen offiziellen Status mehr zuerkannt bekam - worauf wiederum die davor bestehende Vertretung ins Amt gehoben wurde. Eine Zweigleisigkeit, die entlang der Kampflinien zweier Milizverbände bis heute besteht und das Land lähmt bzw. den steigenden Einfluss von Dschihadisten befeuert.

Einheitsregierung ringt um Macht

Eine Situation, die dringend zu lösen ist - was die Vereinten Nationen auch forcieren. Monatelang war um die Bildung einer Einheitsregierung gerungen worden. Eine von Islamisten dominierte Schattenregierung in der Hauptstadt Tripolis gab kürzlich zugunsten einer von den Vereinten Nationen vermittelten Übergangsregierung auf, dementierte kurz darauf aber ihren Machtverzicht. Die Lage ist unklar.

Der Westen hofft, mit einer Regierung der nationalen Einheit der wachsenden Bedrohung Einhalt bieten zu können, die vom IS ausgeht. Noch dazu weist die Miliz eine beängstigende Stärke auf: Mit ihren schätzungsweise 7.000 bis 9.000 Mann ist die für viele Experten der gefährlichste Ableger der Extremistengruppe außerhalb Syriens und des Irak.

Französische Agenten

Zuletzt mehrten sich Berichte über britische, italienische und französische Spezialkräfte auf libyschem Boden. Letztere sind offenbar maßgeblich an den Kämpfen gegen Islamisten in der Hafenstadt Bengasi beteiligt. Die Tageszeitung „Le Monde“ berichtete über heimliche Einsätze französischer Spezialeinheiten und Geheimagenten. Der Auslandsgeheimdienst DGSE würde auch verdeckt gegen den IS vorgehen, hieß es. So sei ein US-Luftangriff gegen IS-Anführer Abu Nabil im November „von Paris initiiert“ worden, schrieb die renommierte Zeitung.

Zerstörtes Gebäude in Bengazi

Reuters/Esam Al-Fetori

Das Land leidet unter den Kämpfen zwischen verfeindeten Rebellen

Werden die USA aktiv?

Doch der Druck auf die USA und die Verbündeten, in Libyen stärker und sichtbar militärisch zu intervenieren, wächst. Das US-Magazin „Politico“ zitierte zuletzt Bob Corker, den Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats. Er erklärte, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama unmittelbar davor stehe, in Libyen gegen den IS aktiv zu werden.

Corker führte aus, dass die Aktivitäten der Dschihadisten in Libyen in den letzten Monaten „aufgeblüht“ seien. US-General David Rodriguez, Kommandeur des Afrika-Kommandos der USA (Africom), schlug vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats in dieselbe Kerbe: Für den General ist Libyen ein „gescheiterter Staat“ ohne jede politische Ordnung und Anziehungspunkt für eine wachsende Zahl islamistischer Extremisten, die sich dieses Chaos zunutze machen.

Dutzende Ziele für US-Luftschläge

Im Auftrag des Pentagon arbeitete das US-Afrika-Kommando für die Obama-Administration umfassende Pläne für ein militärisches Vorgehen gegen den IS aus. Die „New York Times“ („NYT“) berichtete von 30 bis 40 Zielen für Luftschläge gegen Ausbildungslager, Kommandozentralen, Munitionsdepots in vier Landesteilen, um die Terrormiliz in Libyen zu schwächen und westlich unterstützte Rebellen am Boden im Kampf gegen die Dschihadisten zu unterstützen.

Experten warnen vor großen Gefahren: „Die Bedrohung, die vom IS in Libyen ausgeht, wird von vielen gravierend unterschätzt“, erklärte Libyen-Experte Wolfgang Pusztai gegenüber „Middle East Eye“. Sollte man eine ungezügelte Ausbreitung des IS zulassen, werde die lange Küste des Landes bis zum späteren Sommer 2016 mehrheitlich kontrolliert. Unter dem Strich sei ein Eingriff keine Frage der Abwägung, sondern eine Notwendigkeit, erklärt Pusztai.

„Würde Öl ins Feuer gießen“

Manche Experten sehen einen Eingriff mit großer Skepsis, wie etwa der Chef des libyschen Thinktanks Sadeq Institute, Anas El Gomati. Er glaubt, dass die verschiedenen Milizen die internationale Gemeinschaft täuschen werden und sie glauben machen werden, sie würden den IS bekämpfen. Dabei würden sich in erster Linie die Milizen durch gezielte Desinformation der westlichen Allianz gegenseitig Schaden zufügen. Die Kämpfe zwischen den Milizen würden noch weiter eskalieren, durch einen Eingriff würde „zusätzlich Öl ins Feuer“ gegossen, meint El Gomati. „Es würde das Gleiche passieren wie in Syrien und Afghanistan vor zehn Jahren.“

Soldat an einem Maschinengewehr

APA/AFP/Mahmud Turkia

Rebellen des „offiziellen“ Regierung in Tripolis

Italien gegen „sinnlose Abenteuer“

Eine Entscheidung der Staatengemeinschaft, wie man mit der Lage in Libyen umgehen soll, gibt es bis dato nicht. Die Schaffung einer Einheitsregierung galt als Voraussetzung. Russland bekräftigte zuletzt, dass eine Militärintervention nur per UNO-Mandat möglich sei. Italiens Außenminister Paolo Gentiloni sah in einem militärischen Eingreifen „keine Lösung“. Oft verschlimmere das nur das Problem, so Gentiloni.

Es sei zu berücksichtigen, „dass Libyen sechsmal größer als Italien ist. Wir sind gegen sinnlose Abenteuer, die für unsere Sicherheit gefährlich sein können“, sagte der italienische Außenminister. Italien bemühe sich um den Aufbau einer legitimen Regierung in Tripolis. Italiens nationales Interesse sei, dass der Zerfallsprozess in Libyen nicht noch mehr zunehme. „Ein Zusammenbrechen Libyens würde dieses Land zu einem Pulverfass machen und humanitäre Krisen noch mehr verschärfen“.

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