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Private Wahlärzte übernehmen

Nicht nur die Grippezeit bringt Engpässe in den Arztpraxen an die Oberfläche. Über das oft wochenlange Warten auf einen Termin, selbst in Akutfällen, und überhaupt die Suche nach einem nahe gelegenen Arzt mit Kassenvertrag, klagen Patienten schon länger. Die Ärztekammer fordert Hunderte neue Kassenstellen für Österreich, allein 300 davon für Wien.

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Kritiker halten diese Forderung für überzogen und nicht für die Lösung des Problems. Eigentlich handle es sich um einen „relativen Ärztemangel“ - ausgehend von einem hohen Niveau, sagte Wolfgang Geppert vom Österreichischen Hausärzteverband (ÖHV) gegenüber ORF.at.

Im OECD-Vergleich steht Österreich mit der Ärztedichte nach Griechenland an zweiter Stelle. Hierzulande würden um rund 10.000 Ärzte mehr arbeiten als in der von der Bevölkerung her vergleichbaren Schweiz, erklärte Geppert: „Es gibt eine hohe Ärztedichte, aber eine falsche Verteilung.“ Viele Ärzte würden von einem „aufgeblähten Spitalssystem aufgesaugt“.

Zwei Drittel Wahlarzt, ein Drittel Kassenarzt

Nun mache sich nicht nur am Land, sondern immer mehr auch in der Stadt ein Mangel an niedergelassenen Ärzten mit Kassenvertrag bemerkbar, so Geppert. Zugleich nehme die Zahl der Wahlarztpraxen zu. Dabei ersetzt die Krankenkasse 80 Prozent des Kassentarifs - unabhängig davon, was nach dem Arztbesuch auf der Rechnung steht. In Wien arbeiten laut Geppert bereits zwei Drittel der Ärzte im niedergelassenen Bereich als Wahlärzte, in Niederösterreich haben 60 Prozent keinen Kassenvertrag.

Besonders betroffen sind etwa in Wien Kinderärzte und Gynäkologen. Derzeit praktizieren 85 Kinderärzte mit Kassenverträgen, 89 ordinieren privat, wie aus dem Praxisplan der Wiener Ärztekammer hervorgeht. Bei Frauenärzten ist das Verhältnis noch drastischer: In Wien haben 97 Gynäkologen Kassenverträge, 224 arbeiten privat als Wahlarzt. Hier sei das Problem vor allem die Betreuung der Schwangeren, die sich nach Ansicht vieler Frauenärzte nicht lohne, da diese auch Quartalsweise abgerechnet werden, aber öfter als andere Patientinnen kommen, so eine Gynäkologin.

Immer öfter steigen Ärzte unterschiedlicher Fachbereiche aus dem Kassenvertrag aus und steigen auf das Wahlarztsystem um. Man könne in dieser Zeit keine vernünftige Medizin anbieten, so die Argumentation der Aussteiger aus dem Kassensystem. Große Unterschiede gibt es auch von Bezirk zu Bezirk. So ist etwa im 11. Wiener Gemeindebezirk kein einziger privater Kinderarzt zu finden, im reicheren 8. Bezirk dafür gibt es nur Privatordinationen und keinen Kinderarzt mit Kassenvertrag. Gerade in den bevölkerungsreichsten Bezirken wie Favoriten und Donaustadt gibt es dadurch auch die geringste Ärztedichte.

Zusätzliche Stellen „kein Thema“

Die Ärztekammer pocht auf eine Lösung des Problems und fordert von der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) 300 neue Kassenstellen für Wien. Von einer Sitzung am Dienstag mit der WGKK forderte der Vizepräsident der Ärztekammer, Johannes Steinhart, eine „klare Entscheidung“. Die Krankenkasse betreibe eine „verantwortungslose Hinhaltetaktik gegenüber Wiens Patienten“. Die Zahl der Kassenordinationen komme mit dem enormen Bevölkerungswachstum nicht mehr nach.

Von einem wie von der Ärztekammer bezeichneten „Lostag“ für Wiens Patienten wollte der für Vertragspartnerverhandlungen zuständige Direktor der WGKK, Andreas Obermaier, aber nicht sprechen. Die Forderung nach 300 zusätzlichen Kassenplanstellen sei „kein Thema“. Er habe „hinten und vorne keinen Auftrag und kein Pouvoir, über 300 Stellen zu verhandeln“, so Obermaier.

Derzeit gebe es in Wien rund 1.500 Kassenstellen von Allgemein- und Fachmedizinern. 300 Stellen mehr würde ein Plus von 20 Prozent bedeuten. Das stehe in keinem Verhältnis zum Bevölkerungswachstum von 2,4 Prozent. Die Krankenkasse will auf den Ausbau von Gruppenpraxen setzen. Dennoch einigten sich die Verhandler nach dem rund dreistündigen Gespräch am Dienstag, dass sie sich bis zum Sommer über zusätzliche Ärzte für Wien einigen wollen - mehr dazu in wien.ORF.at.

„Lustige“ Forderung

Geppert bezeichnete die Forderung der Ärztekammer nach mehr Kassenstellen als „lustig“. Schon jetzt sei es immer wieder schwierig, Kassenplanstellen zu besetzen. „Viele junge Kollegen wollen sich das nicht mehr antun und ziehen die private Wahlarztregelung vor.“ Als Gründe nennt Geppert die Fremdbestimmung etwa bei Öffnungszeiten und die Bürokratie durch chefarztpflichtige Medikamente.

Auch für Patientenanwalt Gerald Bachinger geht die Forderung der Ärztekammer ins Leere: „Schon jetzt findet man keine Leute mehr dafür.“ Er plädiert umso mehr für eine Abkehr vom klassischen Hausarzt zu einer „professionellen Primärversorgung“ - mehr dazu in wien.ORF.at. Damit ist Bachinger auf Linie von Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ). Sie will mit dem Konzept Primary-Health-Care-Zentren (PHC) gegensteuern, wo Ärzte und andere Gesundheits- und Sozialberufe mit längeren Öffnungszeiten zusammenarbeiten. Die Ärztekammer fürchtet um Einflussverlust und wehrt sich gegen das für April geplante Gesetz.

Geppert bezeichnete die Diskussion über das Primärversorgungssystem hingegen als „Phantomdebatte“. Das Problem werde solange nicht gelöst, solange die Finanzierung des Gesundheitssystems nicht aus einer Hand erfolge, so der Mediziner. Derzeit sind die Länder für den Spitalsbereich und die Krankenkassen für den niedergelassenen Bereich zuständig. Geppert: „Und die Kassen sparen sich Geld, wenn die Patienten in die Ambulanzen gehen - oder zum Wahlarzt.“

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