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Alltagspsychologie kontra Datenmaterial

Wissenschaftler melden in einer aktuellen Studie Zweifel an der Existenz der Winterdepression an. Forscher der Auburn Universität in Montgomery (USA) werteten die Daten von fast 35.000 Erwachsenen aus. Dabei soll sich gezeigt haben, dass weder die Jahreszeit noch der Breitengrad oder die Anzahl der Sonnenstunden Einfluss auf das Auftreten und die Schwere depressiver Symptome haben.

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Mit ihrer provokanten These stehen die Wissenschaftler der US-Universität allein auf weiter Flur. Die Existenz der saisonal affektive Störung (SAD), wie die Winterdepression auch genannt wird, ist bei internationalen Experten unbestritten. Erstmals beschrieben wurde das Krankheitsbild 1984 vom südafrikanischen Psychiater Norman E. Rosenthal. SAD kommt seltener vor als andere depressive Erkrankungen.

Heimischen Experten zufolge leiden fünf Prozent aller Österreicher an einer saisonal affektiven Störung. Als typische SAD-Symptome gelten neben übermäßiger Traurigkeit auch Energielosigkeit und fehlender Antrieb. Betroffene verspüren zudem den Drang, mehr zu schlafen.

Ursache und Wirkung

Die Auburn-Forscher rund um Steven LoBello wollen zwar nicht ausschließen, dass die Jahreszeit bei einigen wenigen Menschen tatsächlich Auswirkungen auf depressive Symptome hat. Im Winter deprimiert zu sein beweise aber nicht, dass man wegen des Winters deprimiert sei.

„Das Idee der saisonalen Depression ist zwar stark in der Alltagspsychologie verankert, kann aber nicht durch objektive Daten belegt werden“, schreiben die Forscher im Fachmagazin „Clinical Psychological Science“. Auch Fachkollegen sähen saisonale Schwankungen bei Depression fälschlicherweise als mehr oder weniger gegeben an, erklärte LoBello gegenüber der Zeitschrift der Association for Psychocological Science.

Suche nach richtiger Therapie wird erschwert

Für ihre Untersuchung befragten LoBello und sein Team die Studienteilnehmer mehrmals jährlich am Telefon. Im Gespräch mussten die Probanden Auskunft geben über erlebte depressive Symptome der vergangenen 14 Tage. Mithilfe eines standardisierten Fragebogens - des PHQ-8 - wurde der Schweregrad der depressiven Verstimmung der Befragten geschätzt.

Die so gesammelten Informationen hätten keine Hinweise auf saisonale Muster ergeben, so die Forscher um LoBello. Auch die Sonneneinstrahlung und der Breitengrad haben den Wissenschaftlern zufolge keinen Einfluss auf depressive Beschwerden.

Die Wissenschaftler empfehlen, die Jahreszeit nicht als Modifikator der Depression heranzuziehen. Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen sollten ihre eigene Auffassung zum Thema überprüfen. „Behandlungen auf Basis falscher Annahmen verhindern eine schnelle und dauerhafte Gesundung“, so LoBello.

Fehlerhafte Studien

Zudem stellen LoBello und sein Team die ersten Untersuchungen zu saisonal affektiven Störungen komplett infrage: Die frühen Studien, die sich mit SAD beschäftigten, seien fehlerhaft gewesen. Untersucht worden seien nämlich Menschen, die nach eigenen Angaben im Winter an Stimmungsschwankungen litten.

Allerdings weist auch die Forschungsarbeit von LoBello Schwachpunkte auf. Die Befragung per Telefon liefere sehr ungenaue Ergebnisse, manche der Interviewpartner könnten schlicht falsche Angaben gemacht haben, kritisierte das Wissenschaftsportal Bazian, das für den britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) aktuelle Studien und die mediale Berichterstattung über sie einer eingehenden Prüfung unterzieht.

Gehirnleistung kaum abhängig von Jahreszeit

Für mediale Resonanz sorgte zuletzt auch eine belgische Studie zu einem bisher wenig erforschten Thema. Ein Team der Universität Liege untersuchte, ob und wie sich die Jahreszeit auf die Gehirnaktivität auswirkt. Die Ergebnisse wurden im Fachblatt „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlicht. Studienleiterin Christelle Meyer und ihre Kollegen rekrutierten dafür 28 junge Frauen und Männer.

Die Forscher erhoben den Melatoninspiegel der Teilnehmer. Melatonin ist ein Hormon, das den Schlaf-Wach-Rhythmus des Menschen reguliert. Die Frauen und Männer mussten mehrmals im Jahr Fragen zu ihrer generellen Stimmung, ihrem emotionalen Zustand und ihrer Aufmerksamkeit beantworten. Weiters wurden das Gedächtnis und die Reaktionsfähigkeit der 28 mit Hilfe von zwei psychologischen Aufgaben getestet, während ihre Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) beobachtet wurde.

Die Forscher stellten fest, dass die Jahreszeit nur geringen Einfluss auf den Melatoninspiegel, den emotionalen Zustand und die Aufmerksamkeit der Probanden hatte. Während des Gedächtnistests war die Gehirnaktivität der Studienteilnehmer im Frühjahr am höchsten und im Herbst am geringsten. Im Winter zeigten sich keine speziellen Ausschläge nach oben oder unten.

„Effizientere“ Arbeit im Winter

Interessanter waren die Ergebnisse des Reaktionstests: Hier war die Gehirnaktivität im Winter am niedrigsten. Die Leistungen der Studienteilnehmer allerdings waren im Winter ebenso gut wie in den anderen Jahreszeiten. Das lasse den Schluss zu, dass das menschliche Gehirn in der kalten Jahreszeit „effizienter“ arbeite, schrieb der Psychologe und Autor Christian Jarrett im „NYMag“.

Bereits in den 1990er Jahren habe eine Studie Hinweise auf eine „verbesserte Hirnfunktion“ im Winter geliefert, so Jarret, der an der aktuellen Studie der belgischen Forscher nicht beteiligt war. Dass sich viele Menschen im Winter schlapper und müder fühlten als im Sommer, könne schlicht Einbildung sein. „Wir sollten uns bewusst sein, dass unsere Erwartungen und Erfahrungen uns beeinflussen“, so Jarret.

Philip Pfleger, ORF.at

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