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Unsolidarisches Powerplay

Von einem Dominoeffekt haben Regierungspolitiker der ÖVP wiederholt gesprochen, als es um die Festlegung einer Höchstzahl für Flüchtlinge, die nach Österreich gelassen werden, gegangen ist. Gemeint ist, Balkan-Länder zu Grenzschließungen zu bewegen und so Druck auf Griechenland aufzubauen, damit es Flüchtlinge nicht einfach weiterschickt.

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Der heftige europäische Konflikt in dieser Frage könnte aber angesichts mangelnder Solidarität der EU-Staaten auch zu einem ungewollten politischen Dominoeffekt führen - etwa auf dem Donnerstagnachmittag beginnenden EU-Gipfel. Denn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel versucht seit Monaten vergeblich - mit Reden und Verhandlungen vor und hinter den Kulissen -, die osteuropäischen EU-Mitglieder dazu zu bringen, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch diese zeigen sich weiter entschlossen, keine Flüchtlinge aufzunehmen, und verschärften im Rahmen des Visegrad-Treffens ihre ablehnende Position.

Merkel steht mittlerweile innenpolitisch stark unter Druck. Umso mehr, als sich in den Verhandlungen mit der Türkei, die sie als Kooperationspartner in der Flüchtlingskrise gewinnen will, bisher nichts entscheidend bewegt. Auch die SPÖ-ÖVP-Koalition wird innenpolitisch vor allem von der FPÖ attackiert. Sie änderte bereits ihren in weitgehender Absprache mit Berlin geführten Kurs, etwa durch die Einführung einer Höchstzahl für Flüchtlinge.

„Reflexhaft nationale Antworten“

Für die Leiterin des Salzburg Centre of European Studies (SCEUS), Sonja Puntscher Riekmann, ist es „erstaunlich und erschreckend“, wie einander „EU-Staaten zutiefst misstrauen und reflexhaft nationale Antworten suchen“. Bei der Finanzkrise habe man ganz anders agiert, sagte Puntscher-Riekmann im Gespräch mit ORF.at, da sei „viel mehr Hektik entwickelt“ worden. Wenn es „um real existierende Menschen“ gehe, sei dann plötzlich alles anders.

Visegrad-Treffen

APA/AP/Petr David Josek

Diese Gruppe sorgt für Unruhe auf EU-Ebene

Visegrad gegen „Diktat“

Der EU-Gipfel ist die nächste Gelegenheit, den die Union immer tiefer spaltenden Konflikt auf höchster Ebene zu verhandeln. Eine Einigung ist nicht in Sicht, es wird einmal mehr um atmosphärische Eindrücke gehen. Deutschland versucht offenbar über diplomatische Kanäle, die Osteuropäer unter Druck zu setzen. Der slowakische Regierungschef Robert Fico, der in wenigen Wochen eine Wahl schlagen muss, sprach am Rande des Treffens der Visegrad-Gruppe sogar von einem „Diktat“ Deutschlands in der Frage.

Wiederholt wurde in den letzten Wochen in den Raum gestellt, dass mittelfristig das Schengen-Abkommen fallen könnte - oder alternativ der Schengen-Raum mit freiem Waren- und Personenverkehr stark eingeschränkt werden könnte. Das wäre für die osteuropäischen EU-Länder eine Gefährdung ihrer Wirtschaft. Auch über Einschränkungen der EU-Fördergelder, von denen die Osteuropäer besonders profitieren, wurde wiederholt laut nachgedacht.

Drei Vorstöße von Österreich

Und Österreichs Regierung unternahm zuletzt gleich drei Vorstöße, die ebenfalls vorrangig osteuropäische Länder treffen würden. So beantragte Wien erstens EU-Finanzhilfe für die Kosten der Flüchtlingskrise - damit müssten Ungarn und Co. indirekt auch mitzahlen.

Zweiklassensozialpolitik

Der zweite Vorstoß ist Außenminister Sebastian Kurz’ (ÖVP) zuletzt wiederholte Forderung, die Sozialleistungen - konkret die Familienbeihilfe für in Österreich lebende EU-Ausländer - zu beschränken, wenn die Beihilfe ins Ausland überwiesen wird. Bei ärmeren Ländern würde das eine Beschränkung bedeuten.

Damit forderte Kurz de facto nichts anderes als das, was Großbritannien nun zugestanden werden soll, um einen Austritt des Vereinigten Königreichs („Brexit“) zu verhindern. Denn London soll das Recht bekommen, Sozialleistungen für zuziehende EU-Bürger für vier Jahre auszusetzen - ein Zugeständnis, das eigentlich dem Prinzip der Gleichberechtigung von EU-Bürgern widerspricht.

Die osteuropäischen Staaten machen daher ihre Zustimmung zu diesem Deal mit London laut britischen Medienberichten explizit von einer Garantie abhängig, dass keine weiteren EU-Staaten diese Regelung implementieren dürfen. Denn die Sanktion trifft einmal mehr die osteuropäischen Staaten, die dann ihrerseits innenpolitisch stärker unter Druck kommen könnten, wenn das Beispiel in Österreich oder gar Deutschland Schule macht und Millionen Osteuropäer betroffen wären.

Arbeitsmarktzugang erschweren

Drittens ließ der Wiener Arbeiterkammer-Chef Werner Muhm mit der Forderung aufhorchen, auf EU-Ebene über eine Notfallklausel zum Schutz des Arbeitsmarktes zu debattieren. Bei den meisten Parteikollegen holte er sich damit zwar eine Abfuhr, auch von der Spitze. Dennoch stellte sich Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) - unter Applaus seines blauen Koalitionspartners - an die Seite Muhms.

Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) merkte zwar an, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur durch einstimmigen Beschluss aller 28 EU-Staaten eingeschränkt werden könnte. Trotzdem sprach er sich für einen „restriktiveren Zugang“ auf den heimischen Arbeitsmarkt aus. Dazu solle die Entsenderichtlinie verschärft werden.

Unrealistische Forderung

Die Wirtschaftskammer (WKÖ) verwies umgehend darauf, dass die Vorschläge Muhms und Faymanns kaum in die Tiefe gingen und wesentliche geltende Gesetze in Österreich nicht berücksichtigten. Für Puntscher Riekmann steht dahinter auch das Kalkül, den Druck auf die osteuropäischen Staaten zu erhöhen, damit sich diese im Flüchtlingsstreit kooperativer verhalten.

Sie vermutet aber auch eine weitere Agenda dahinter - nämlich die Mobilität inerhalb Europas zu reduzieren. Aber „dann setzen wir Grenzen auch innerhalb der Union“, nicht nur gegenüber Migranten. Puntscher Riekmann erinnerte daran, dass Gewerkschaft und AK der Arbeitsmarktöffnung schon immer sehr skeptisch gegenüberstanden und Österreich - anders etwa als Großbritannien - bis zum letzten Tage wartete.

Umkehr der Dynamik

Die EU-Expertin konstatierte einen „massiven Einbruch in Sachen Solidarität“ - auch Merkels Alleingang im Sommer sei letztlich „keine europäische Politik“ gewesen. Es gebe mittlerweile eine starke Renationalisieriung in allen EU-Staaten.

Die Entwicklungen der letzten Monate zeigen, dass sich jener Prozess, der der EU bisher prinzipiell zugrunde liegt - das gemeinsame solidarische Handeln -, zusehends umkehrt und eine Entsolidarisierung droht. Denn de facto kündigten nicht nur die Osteuropäer, sondern auch EU-Kernmitglieder wie Italien und Frankreich Deutschland in der Flüchtlingsfrage weitgehend die Solidarität auf.

Italiens Premier Matteo Renzi wettert und stichelt seit Wochen in Richtung Berlin. Detto sein sozialdemokratischer Partei- und Amtskollege in Paris: Der französische Premier Manuel Valls, der innenpolitisch von Marine Le Pens Front National bedrängt wird, machte klar, dass Paris keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen werde. Valls sagte das ganz öffentlich - in Deutschland.

Kein „Gipfel der Willigen“

Der für Donnerstag geplante „Minigipfel der Willigen“ in der Flüchtlingskrise wurde unterdessen abgesagt. Der Grund dafür ist die Absage des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, der wegen des verheerenden Bombenanschlags in Ankara nicht nach Brüssel reisen wollte.

Ohne Davutoglu hat die Zusammenkunft im Vorfeld des EU-Gipfels offenbar keinen Sinn. Elf EU-Staaten wollten in der österreichischen EU-Vertretung mit der Türkei über konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der großen Zahl von Flüchtlingen aus dem syrischen Kriegsgebiet sprechen. Faymann zeigte sich erschüttert vom Anschlag in Ankara. Er habe „natürlich vollstes Verständnis“ für die Absage Davutoglus. Es werde so rasch wie möglich ein neuer Termin koordiniert.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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