„Ich muss das Bild berühren können“
Die französische Autorenfilmerin Mia Hansen-Love, verheiratet mit dem nicht minder prominenten Filmemacher Olivier Assayas, ist bei der Berlinale mit ihrer neuen Arbeit „L’avenir“ („Die Zukunft“) mit Isabelle Huppert als ehrgeiziger Pariser Philosophielehrerin vertreten. Letztes Jahr hatte ihr die Diagonale eine Werkschau gewidmet, sie gab aus diesem Anlass ORF.at ein Interview - in dem sie auch schon auf den neuen Film einging.
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Fünf Spielfilme hat die 35-jährige Hansen-Love mittlerweile gemacht. Alle sind von Menschen inspiriert, die der Regisseurin etwas bedeuten oder bedeutet haben, wie sie erklärt. In ihrem Debütlangfilm „Tout est pardonne“ (2007) spielt ihr eigener französisch-österreichischer Familienbackground eine Rolle, in „Vater meiner Kinder“ (2009) nimmt sie das tragische Schicksal des bekannten Produzenten Humbert Balsan, der auf ihren ersten Kurzfilm aufmerksam wurde und sich später das Leben nahm, auf.

Polyfilm
„Der Vater meiner Kinder“ erinnert an das Leben des Produzenten Humbert Balsan, der Mia Hansen-Love entdeckte
„Un amour de jeunesse“ (2011) erzählt von der selbstzerstörerischen, unerfüllten Liebe eines jungen Mädchens. Hier bringt Hansen-Love Ereignisse ihrer eigenen Jugend ins Spiel. In „Eden“ (2014) erzählt sie, in Spielfilmform, von ihrem Bruder, der sich lange Jahre als DJ versuchte, ohne je mit seiner Musik den Durchbruch zu schaffen. Nun, in „L’avenir“ (2016), geht es um eine Philosophielehrerin - der Beruf von Hansen-Loves Eltern.
Als 17-Jährige stand sie für Olivier Assayas vor der Kamera, zwei Jahre später ein zweites Mal. Das Studium am Schauspielkonservatorium brach sie ab und arbeitete als Filmkritikerin für die „Cahiers du cinema“ - wo auch Assayas einst Redakteur war. Den mit 61 Jahren bedeutend Älteren heiratet sie 2009.
ORF.at: Ihre Eltern waren beide Philosophielehrer. Hat das Spuren hinterlassen?
Mia Hansen-Love: (lacht) Ja, viele! Auch wenn ich meinerseits nie besonders „philosophisch“ war. Diese Gabe habe ich nicht. Aber ich glaube, meine Eltern haben mir die Lust mitgegeben, auf eine gewisse Art zu leben. Und Werte wie sich Zeit fürs Lesen und Schreiben zu nehmen. Als ich älter wurde, habe ich meine Eltern am Schreibtisch sitzen sehen und Hausarbeiten korrigieren oder Übersetzungen machen, Texte schreiben. Denn meine Mutter ist auch Verlegerin. Für mich ist es also vollkommen normal, Zeit am Schreibtisch zu verbringen. Das hat mir auch geholfen, konzentriert zu arbeiten und zu schreiben.
Auf intellektueller, abstrakterer Ebene bin ich groß geworden mit der Idee der Suche nach Weisheit, nach dem Guten und dem Glück. Zu diesen Begriffen habe ich keinen „technischen“ Bezug, das heißt, ich weiß nicht das, was meine Eltern wissen, habe nicht die Bücher gelesen, die sie gelesen haben. Doch das Verhältnis zum Leben, das sie mir mitgegeben haben, ist sehr präsent. Ich erfinde und definiere es nach meiner Fasson in meinen Filmen neu. Und übrigens ist der nächste Film, den ich machen werde ...
ORF.at: ... mit Isabelle Huppert ...
Hansen-Love: Genau ... das Porträt einer Philosophielehrerin. Ich komme also, nachdem ich mich davon entfernt habe, wieder auf die Frage des Denkens und der Philosophie zurück.
ORF.at: Sie haben beim Werkstattgespräch erwähnt, dass Sie ein melancholisches junges Mädchen waren.
Hansen-Love: Früher, ja. (lacht)
ORF.at: Und dass diese Melancholie vielleicht auch auf Ihre Zeit in Wien zurückzuführen sei. War das ernst gemeint?
Hansen-Love: Ich habe nie in Wien gelebt, war aber sehr oft dort. Als Teenager besonders oft, und diese Reisen haben mich aus verschiedenen Gründen sehr geprägt. Es stimmt, Wien hat in meiner Fantasie eine wichtige Rolle gespielt, denn mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen. Er hat 18 Jahre dort gelebt und war der älteste von sechs Brüdern. Sein Vater hat sich in Wien umgebracht. Dann ist die ganze Familie nach Frankreich gezogen und nie wieder nach Wien zurückgekehrt, um dort zu leben. Ich assoziiere mit Wien gleichzeitig dieses Unglück und die Melancholie, die sich bei meinem Großvater zeigte und die sein Tod bei der ganzen Familie hervorgerufen hat.
Aber ich bringe Wien auch mit einer Art verlorenem Paradies in Verbindung: das der Großfamilie, denn ich bin mit einem älteren Bruder aufgewachsen, der ziemlich früh weggegangen ist, als ich erst sieben war. Die Berichte meiner Großmutter über Wien waren sicher auch geschönt, teilweise ein Mythos. Wien ist für mich mit diesem Mythos verbunden.

ORF.at/Simon Hadler
Wien als „eine Art verlorenes Paradies“: Hansen-Love im Gespräch mit ORF.at
Außerdem habe ich dann Germanistik studiert und meinen Magister der Philosophie gemacht. Es ging um das Thema „Was ist Sympathie?“ (lacht), um ein Buch von Max Scheler, einem nicht sehr bekannten deutschen Philosophen.
Die deutsche und österreichische Literatur bedeuteten mir immer sehr viel. Ich wollte zu meinen Wurzeln kommen, umso mehr, als sie nicht mehr da waren. Denn meine Familie ist teilweise verschwunden, genau wie die dänischen Wurzeln meines Vaters, er ist ja halber Däne. In Dänemark ist aber niemand mehr von der Familie, während sie in Frankreich, wo ich groß geworden bin, viel näher ist, greifbar. Als Jugendliche hatte zwangsläufig das, was mysteriöser war, mehr Anziehungskraft auf mich.
ORF.at: Einen Ihrer vier Spielfilme, „Der Vater meiner Kinder“, stammt von 2009 - und ist noch auf 35 mm gedreht. Er wirkt dadurch schon wie aus einer anderen Zeit.
Hansen-Love: Meinen nächsten Film werde ich auf 35 mm drehen!
ORF.at: Wirklich?!
Hansen-Love: Der einzige meiner Filme, den ich nicht auf 35 mm gedreht habe, war „Eden“, aus finanziellen Gründen. Bei „Eden“ bereue ich es nicht, weil ich finde, dass das Digitale gut zum Thema passt. Ich hatte auch mehr Freiheit beim Drehen dunkler Szenen, als wenn ich auf Film gedreht hätte. Aber es gibt beim 35-mm-Material etwas, das mich unwiderstehlich anzieht.
Neulich habe ich „Der Vater meiner Kinder“ in Paris wieder gesehen, nach langer Zeit, seit 2009 das erste Mal wieder. Ich war bewegt - nicht vom Film, sondern vom Material. Ich verstand, warum es mein Lieblingsmaterial ist. Ganz egal, ob 35 mm als „Has-been“ oder „Vintage“ angesehen wird, ich bin nicht besonders nostalgisch, ich bin nicht vom alten Kino angezogen. Mich interessiert das moderne Kino. Dennoch will ich auf mein Lieblingswerkzeug, das 35-mm-Material, nicht verzichten! Ich kann mich an das digitale Bild nicht gewöhnen! Die Art, wie da Bewegungen aussehen, das ruft ein Gefühl von Immaterialität hervor, das ich nicht mag.
ORF.at: In „Vater meiner Kinder“ gibt es auch eine Sequenz, die fast im Dunkeln spielt und nur von Kerzen beleuchtet ist. Das hat auch auf 35 mm gut funktioniert ...
Hansen-Love: Ich wollte Dunkelheit nie so filmen, wie sie im Allgemeinen im Kino gefilmt wird: mit Zusatzlichtern, die das Dunkel künstlich aufhellen. Ich finde Schatten im Dunkel sehr schön, aber wenige Filmemacher gestehen sich das zu, denn oft haben die Kameraleute große Angst, dass man nicht genug sieht. Daher wollen sie sich absichern.

ORF.at/Simon Hadler
„Der Altersunterschied zwischen Olivier und mir ist sehr bereichernd“, sagt Mia Hansen-Love über ihre Ehe mit Olivier Assayas
ORF.at: Viele Filmemacher sichern sich auch auf musikalischer Ebene ab, indem sie Soundtracks einsetzen, um die gewünschten Stimmungen und Emotionen hervorzuheben. Das tun Sie nie.
Hansen-Love: Nein. Das ist sehr schwierig zu erklären. Vielleicht werde ich eines Tages die richtigen Worte finden. Das war von Anfang an so bei mir und hat sich nicht geändert: eine Abneigung gegen Filmmusik. Dennoch gibt es natürlich große Filmkomponisten, manche Filmmusik singe ich vor mich hin: die Musik in Kubricks „Barry Lyndon“ zum Beispiel. Mir liegt viel daran, dass die Musik dieselbe ist, die auch die Figur im Film hört, um zwischen Figur und Musik eine Beziehung auf Augenhöhe zu haben. Ich mag es nicht, wenn der Filmemacher wie ein Marionettenspieler seine Figuren manipuliert.
ORF.at: Musik nur dann, wenn sie in der Szene auch für die Figuren hörbar ist? Das ist ja wie eine Regel aus der „Dogma“-Zeit.
Hansen-Love (lacht): Das wende ich aber nicht dogmatisch an, das kommt aus einem Gefühl heraus, ist instinktiv. Danach habe ich daraus eine Theorie abgeleitet, als ich gemerkt habe, dass ich es immer so mache. Vor meinem ersten Film habe ich einmal drei Wochen lang an „Emergences“ teilgenommen, einer Institution, um jungen Regisseuren zu helfen, ihren ersten Film zu machen. Auf der Tagesordnung stand auch, mit einem Komponisten arbeiten zu müssen. Das hab’ ich gehasst! (lacht)
Ich finde es kleinlich, Bilder zu sehen und dazu maßgeschneiderte Musik zu machen, das ist sehr grob gegenüber dem Kino. Und als Zuschauerin fühle ich mich oft sehr gestört durch die Filmmusik. Manchmal tötet die Musik auch den Film. Und ich finde, das wird in der Filmkritik sehr wenig beachtet. Die Kritiker scheinen zu faul dafür zu sein. Und so werden die Filmemacher noch ermutigt, musikalisch immer wieder dasselbe zu machen.
ORF.at: Ich mochte den Satz von Bresson, den Sie zitiert haben: „Die Seele ist in den Händen und Füßen.“
Hansen-Love: Es war wahrscheinlich in Wahrheit ein weniger schlichter Satz, als ich ihn zitiert habe. Robert Bresson liest einen Text von Pascal, einen sehr schönen Text von Pascal, wo er erklärt, dass es für ihn eine Verbindung zwischen der Seele und den Händen und Füßen gibt.
ORF.at: Wie soll man diesen Satz nun aber in Bilder umsetzen?
Hansen-Love: Das kann jeder machen, wie er will. Es ist das Werk eines ganzes Lebens, darauf eine Antwort zu finden. Ich spüre das aber in seinem Kino. Wenn Bresson Einstellungen der Hände macht ... Ich will es nicht wie er machen, das hat keinen Sinn, aber mein Kameramann und ich hatten diese Idee, als wir „Eden“ machten. Umso mehr, als „Eden“ ja ein Film über einen DJ ist, der mit seinen Händen arbeitet. Vieles passiert über die Beziehung zwischen ihm und den Zuhörern, aber auch zwischen ihm und dem Vinyl. Ich mag das Unsichtbare, wenn es sich so materialisiert. Das Vinyl ist ein sehr gutes Beispiel dafür: Denn es ist konkret, ein sichtbares Ding, und doch gewährt es Zugang zu etwas Unsichtbarem.

Thimfilm
Bild aus „Eden“: Vinyl als greifbares Ding, das Zugang zum Unsichtbaren gewährt
ORF.at: Wie beim 35-mm-Material.
Hansen-Love: Ich wollte gerade darauf zurückkommen! Denn das ist es, was mir beim Digitalen Probleme macht. Ich muss es berühren können! So wie ich deswegen auch weiter Zeitungen kaufe. Das ist kein Aberglaube! Wenn ich das digitale Bild sehe, weiß ich nicht, wo es ist. Beim 35-mm-Bild weiß ich, wo es ist.
ORF. at: Darf ich mir eine persönliche Frage zum Schluss erlauben?
Hansen-Love: Das hängt davon ab. (lacht)
ORF.at: Sie sind 34 (Anm.: mittlerweile 35), Ihr Ehemann, der Filmemacher Olivier Assayas, ist 60 (Anm.: mittlerweile 61). Beschäftigt Sie dieser Altersunterschied manchmal?
Hansen-Love: Wenn ich sagte, dass ich nie darüber nachgedacht hätte, dass er nicht präsent wäre, müsste ich lügen. Aber für mich ist das kein Handicap oder ein Problem. Ich habe Olivier kennengelernt, als ich noch ziemlich jung war. Wir waren Freunde, bevor wir ein Paar wurden. In unserer Beziehung gibt es ein Gleichgewicht, das mit diesem Altersunterschied zu tun hat. Das ist sehr bereichernd für mich. Ich habe immer das Positive daran gesehen. Und das hat die negative Seiten, falls vorhanden, bei Weitem aufgewogen. Außerdem kommt mir Olivier jünger vor als manche Menschen meines Alters.
Das Interview führte Alexander Musik, ORF.at
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