Kleinode großer Künstler
Bereits zweimal hat ein Film der Coen-Brüder die Filmfestspiele in Berlin eröffnet. Und auch zum Auftakt der 66. Berlinale, die am Donnerstagabend beginnt, geben sich Joel und Ethan Coen die Ehre: „Hail, Caesar!“ heißt ihre zur Blütezeit des Hollywood-Studiosystems angesiedelte Komödie. Insgesamt 18 Filme schickt die Jury unter dem Vorsitz von Meryl Streep heuer ins Rennen um den Goldenen Bären.
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Joel und Ethan Coen sind genau die Richtigen, um dem Profil der Berlinale – das allerdings in den vergangenen Jahren immer unschärfer wurde - gerecht zu werden: Die Brüder stehen für cleveres, anspruchsvolles Unterhaltungskino mit einem Großaufgebot an Stars und hohem Schauwert – einmal grenzgenial, einmal hemmungslos überdreht, einmal intimistisch, immer wunderbar eigensinnig und sprühend vor Bildideen.
In „Hail, Caesar!“, angesiedelt in den 50er Jahren, bestätigt sich das einmal mehr: George Clooney spielt darin den Star eines Hollywood-Monumentalschinkens mit dem Arbeitstitel „Hail, Caesar!“ - und wird eines schönen Tages vom Set weg entführt. Was tun? Alle Hoffnungen des Studios, das durch den fatalen Drehstopp täglich Unsummen verliert, ruhen auf dem Trouble-Shooter Eddie Mannix (Josh Brolin). Er wird außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen müssen in dieser Film-im-Film-Farce, die mit Scarlett Johansson, Channing Tatum, Frances McDormand, Ralph Fiennes und Dolph Lundgren ziemlich einzigartig besetzt ist. Filmstart in Österreich ist nächste Woche - eine ausführliche ORF.at-Rezension folgt.

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„Hail, Caesar!“-Stars George Clooney und Dolph Lundgren
Deutsche Filmszene leckt ihre Wunden
Deutsche Zeitungen wie „Die Welt“ spekulieren schon, wie es kommt, dass es nur ein deutscher Beitrag in den Wettbewerb mit 23 Filmen, davon fünf außer Konkurrenz, geschafft hat: „24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached, über die schwierige Entscheidung einer Frau, ein voraussichtlich mehrfach behindertes Kind zur Welt zu bringen oder nicht.
„Alone in Berlin“ („Jeder stirbt für sich allein“) hätte ein genuin deutscher Beitrag im Wettbewerb werden können; doch Vincent Perez’ Verfilmung von Hans Falladas Klassiker über eine todesmutige Berliner Arbeiterfamilie in der NS-Zeit wurde aus Gründen internationaler Finanzierbarkeit auf Englisch gedreht, und zwar - mit Daniel Brühl, Emma Thompson und Brendan Gleeson - wieder einmal in Görlitz an der deutsch-polnischen Grenze: Dort musste die historische Kulisse nicht erst teuer gebaut werden, sie ist unzerstört erhalten.
Auf Weinreise mit Gerard Depardieu
Während die Deutschen ihre Wunden lecken, freut sich Frankreich über seine vielen Beiträge, darunter Mia Hansen-Loves neue Arbeit „L’avenir“ („Die Zukunft“) mit Isabelle Huppert als ehrgeizige Pariser Philosophielehrerin, die eines Tages damit konfrontiert wird, dass ihr Mann sie verlassen wird.

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In heimischen Kinos gerade gemeinsam auf der Leinwand in „Valley of Love“ zu sehen, treten Huppert und Depardieu in Berlin mit unterschiedlichen Filmen an
Ebenfalls im Wettbewerb: „Saint Amour“ mit Gerard Depardieu und Benoit Poelvoorde in einer entfremdeten Vater-Sohn-Beziehung, die in diesem Film des talentierten Regieduos Benoit Delepine und Gustave Kerver („Mammuth“) eine gemeinsame Reise in den beschaulichen Weinort Saint Amour zum Anlass nehmen, sich einander wieder anzunähern.
Spike Lee und der „nationale Notstand“
In die Welt rivalisierender Gangs Chicagos taucht der neue Film von Spike Lee ein: Doch „Chi-Raq“ (das Slangwort spielt auf die verheerende Mordstatistik in der US-Metropole Chicago an) ist kein weiterer Film, der mit blutrünstigen Bandenkriegen auf das aufmerksam macht, was Regisseur Lee einen „nationalen Notstand“ nennt. Lee leiht sich Motive aus „Lysistrata“ aus, dem Drama des griechischen Klassikers Aristophanes’.
Lees Lysistrata und ihre Freundinnen beschließen einen Sexstreik, damit ihre stets auf Rache sinnenden Partner endlich einmal zur Vernunft kommen und aus der Spirale der Gewalt ausbrechen. Angereichert mit viel Hiphop-Musik und einer bemerkenswerten Darstellerriege, darunter Angela Bassett, Wesley Snipes, John Cusack und Samuel L. Jackson, steht „Chi-Raq“ für einen neuen künstlerischen Ansatz, mit dem Dauerproblem der USA – Gewalt zwischen Schwarz und Weiß, Gewalt zwischen Schwarz und Schwarz – umzugehen.
Europa als Michael Moores Paradies
Apropos Probleme: Michael Moore sucht in seinem neuen Dokumentarfilm „Where to invade next?“ (im Berlinale Special) nach Lösungen für alle möglichen US-amerikanischen Probleme - in Europa: Moore reist von Land zu Land und findet, bei rigoroser Ausblendung aller dortigen Konflikte, in der Alten Welt das Paradies: gute Schulspeisung in Frankreich, tolles Bildungssystem in Finnland, vorbildliche Geschichtsaufarbeitung in Deutschland, rühmliche Urlaubsregelungen in Italien.
Und so weiter. Nicht zu reden von der Flüchtlingskrise und ihrer Bewältigung. Moore selbst hatte zur Weltpremiere des Films 2015 in Toronto angeboten, sein Haus in Michigan syrischen Flüchtlingen anzubieten. Sicher wird sich Moore in Berlin einige Fragen dazu stellen lassen müssen.

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Einmal jährlich erfasst Berlin das Berlinale-Fieber
Wer steckte hinter Stuxnet?
Einen weiteren vielversprechenden Dokumentarfilm hat Berlinale-Direktor Dieter Kosslick in den Wettbewerb gehievt: „Zero Days“ von Alex Gibney arbeitet die Geschichte des zerstörerischen Quellcodes Stuxnet auf, der 2010 dazu gedacht war, das iranische Atomprogramm auszuhebeln - ohne dass bekanntwürde, wer hinter der Schadsoftware steckt.
Bis heute leugnen die USA und Israel, Auftraggeber von Stuxnet zu sein, wie „Zero Days“ erzählt. Gibney recherchiert die Hintergründe der selbst replizierenden Software, mit der lebenswichtige Systeme ganzer Staaten in Sekundenbruchteilen lahmgelegt werden können: ein Film über Allmachtsfantasien und ihre Folgen.
Österreichisches in Nebenreihen
Österreichische Produktionen finden sich im 66. Berlinale-Jahrgang nur in den zahllosen Nebenreihen mit ihren immer unübersichtlicheren Profilen: Genannt sei im „Forum“ „Die Geträumten“ von Ruth Beckermann. Zwei junge Darsteller, Anja Plaschg - bekannt als Musikerin Soap&Skin - und Laurence Rupp, tragen einander in einem Studio den bewegenden Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan vor. Fast 20 Jahre lang schrieben einander die beiden Dichter – und die Darsteller reagieren auf die Worte der Liebe und der Fremdheit und verlassen mitunter ihre Rollen, um etwa in einer Rauchpause darüber zu reden, was sie da lesen.
Der junge österreichische Filmemacher David Clay Diaz präsentiert in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ seinen Langspielfilm „Agonie“, in dem unter anderen Mercedes Echerer mitspielt. Es geht darin um einen Mörder, der seine Liebhaberin zerstückelt - ohne erkennbares Motiv. Nikolaus Geyrhalter schließlich bleibt in seiner jüngsten Arbeit „Homo sapiens“ seinem Stil treu: Ohne Worte, in unbewegten Bildern zeigt die Kamera Orte, wo einst Menschen lebten. Die Natur hat sie zurückerobert: Wohnsiedlungen, Gefängnisse, einen Reaktorblock. Ein Film als kontemplativer Essay: Was bleibt vom homo sapiens?
Alexander Musik, ORF.at
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