Offene Grenze - im Notfall
Die Offensive der syrischen Regierungstruppen mit russischen Bombenangriffen auf Aleppo hat Zehntausende Menschen vertrieben. Die meisten davon versuchen, über die Türkei aus Syrien zu fliehen. Ankara sichert zwar offene Grenzen zu - allerdings nur im Notfall. Derzeit ist die Grenze zwischen den beiden Ländern für die meisten Flüchtlinge geschlossen.
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Der Grenzübergang Öncüpinar blieb auch am Sonntag zu, wie ein Sprecher des Gouverneurs der Grenzregion Kilis bestätigte. „Wir tun alles, was in unserer Macht steht“, sagte der Sprecher. Die Grenze sei jedoch nicht grundsätzlich geschlossen. Falls nötig, werde den Flüchtlingen Einlass gewährt, sagte der Sprecher, ohne Details zu nennen. Familien mit Kindern harrten einem AFP-Bericht zufolge auf der syrischen Seite in provisorischen Lagern in der Kälte aus.
Grenzöffnung bei „außergewöhnlicher Krise“
Nothilfe stellte in erster Linie die islamische regierungsnahe Organisation IHH bereit. Laut einem türkischen Behördenvertreter werde die Grenze für Notfälle geöffnet. Am Freitag seien etwa sieben Verletzte durchgelassen worden, am Samstag ein weiterer Verwundeter. Andere Quellen sprechen von einigen tausend, die in die Türkei gelassen wurden.

Reuters/Osman Orsal
Syrische Flüchtlinge stellen sich bei der Grenze zur Türkei für Decken an
Nach Angaben von Helfern versorgen sie derzeit 50.000 syrische Flüchtlinge mit Essen, Decken und Zelten in der Grenzregion. Zuvor hatten die Behörden noch von 35.000 Syrern gesprochen, die auf die Weiterreise in die Türkei warten. Schon am Samstag hatte der Gouverneur der türkischen Grenzregion Kilis, Süleyman Tapsiz, allerdings betont, dass die Türkei nur im Fall einer „außergewöhnlichen Krise“ die Grenzen öffnen werde: „Die Neuankömmlinge werden in Lagern auf der syrischen Seite der Grenze aufgenommen.“ Man stelle dort Hilfe für die Flüchtlinge zur Verfügung. Die meisten warten in der Kälte und im Freien.
„Aufnahmefähigkeit“ am Ende
Die Türkei habe das Ende ihrer „Aufnahmefähigkeit“ erreicht, werde Flüchtlinge aber weiterhin aufnehmen, sagte der stellvertretende Premierminister Numan Kurtulmus am Sonntag gegenüber CNN-Turk. Er konnte allerdings nicht erklären, warum Zehntausende Flüchtlinge aus der Grenzregion nicht in die Türkei gelassen werden.
Aleppo
Die Großstadt ist 60 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Mehr als eine Million Menschen leben unter Kontrolle der Regierung, weitere 350.000 in Vierteln, in denen die Opposition die Macht hat.
Unterstützt durch russische Luftangriffe rücken im Raum Aleppo die syrischen Soldaten gegen die Aufständischen vor, darunter auch viele Islamisten der Al-Nusra-Front und ihrer Verbündeten. Für den Fall, dass die Stadt ganz an die syrischen Regierungstruppen fällt, rechnet die Türkei mit mehr als einer Million zusätzlichen Flüchtlingen. Das könnte nach Angaben von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen bald sein. In der Türkei leben derzeit zweieinhalb Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge.
Syrische Armee nähert sich Grenze zur Türkei
Unterdessen wurde über Aktivisten bekannt, dass syrische Regierungstruppen bei ihrer Offensive in der Provinz Aleppo auf eine 20 Kilometer von der türkischen Grenze entfernte Rebellenhochburg vorgestoßen sein sollen. Die Soldaten seien - unterstützt von russischen Luftangriffen - am Sonntag bis auf sieben Kilometer auf die Stadt Tal Rifaat vorgerückt, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Großbritannien. Die Angaben der den Rebellen nahestehenden Beobachtungsstelle sind von unabhängiger Seite nur schwer zu überprüfen.
Die regierungsfreundliche Zeitung „Al Watan“ berichtete, sollte die Stadt fallen, werde die Armee weiter vorrücken und die Kontrolle über den gesamten Norden der Provinz Aleppo übernehmen. In der Nähe des syrisch-türkischen Grenzübergangs sitzen derzeit Zehntausende Menschen fest, die vor der Armeeoffensive geflohen sind.
Angriffe als Mitgrund für Gesprächsabbruch
Mit der Offensive bei Aleppo gelang es der syrischen Regierung jedoch, die Friedensverhandlungen in Genf zu blockieren. Harsch fiel deswegen am Freitag die Kritik der NATO aus. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warf Russland vor, den Syrien-Konflikt anzuheizen. „Die intensiven russischen Luftangriffe, die vor allem Oppositionsgruppen treffen, untergraben die Bemühungen, den Konflikt politisch zu lösen“, sagte er am Rande eines EU-Verteidigungsministertreffens in Amsterdam. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert von Russland und der syrischen Regierung die Einstellung ihrer Angriffe auf Rebellen.
EU fordert offene Grenzen ein
Die EU fordert von der Türkei offene Grenzen ein. Die sicherte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu entgegen den Aussagen des Gouverneurs Tapiz zu: „Wir halten an der Politik der offenen Tür für diejenigen fest, die vor der Gewalt des Regimes und den russischen Luftschlägen fliehen.“ EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn forderte indessen mehr Engagement in Bezug auf die Flüchtlinge, die Richtung Europa unterwegs sind: „Die Türkei kann mehr tun, daran habe ich keinen Zweifel.“
Es sei „keine Entschuldigung“ für die türkische Regierung, dass sie mehr Sicherheitskräfte im Südosten des Landes benötige und deshalb nicht die Westküste schützen könne. Am Mittwoch will die EU-Kommission einen Bericht zur Türkei veröffentlichen, der die bisherigen Maßnahmen des Landes zur Eindämmung des Migrationsstroms in Richtung Griechenland und die EU kritisch unter die Lupe nehmen dürfte. Zuletzt dürfte die Türkei allerdings die Bemühungen verstärkt haben. Es wurden Boote beschlagnahmt und gestoppt, mutmaßliche Schleuser gefasst und Schwimmwesten beschlagnahmt. Die Einreisebedingungen für Iraker sollen verschärft werden.
Athen fordert 2.000 Frontex-Beamte
Doch an den Zahlen ist dieses Engagement noch nicht ersichtlich. Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erreichten von Anfang des Jahres bis Samstag über 68.000 Menschen Griechenland von der türkischen Ägäis-Küste. Mindestens 366 Menschen seien seit Jahresbeginn im Mittelmeer ums Leben gekommen.
Zur Absicherung der EU-Außengrenze zwischen der Türkei und Griechenland forderte der griechische Außenminister Nikos Kotzias nun die Entsendung von 2.000 Beamten der Grenzschutzagentur Frontex. „Wir haben die EU aufgefordert, uns 2.000 Beamte der Grenzschutzagentur Frontex und 100 Boote zu schicken“, sagte Kotzias der „Rheinischen Post“ (Montag-Ausgabe). „Es kamen bisher nur 800 Beamte.“ Täglich kämen über die Ägäis 2.000 bis 2.400 Flüchtlinge nach Europa, sagte Kotzias.
Erneut Hilfsgüter in Vorort von Damaskus geliefert
Dem Roten Kreuz ist es nach eigenen Angaben erneut gelungen, Hilfsgüter in einen von syrischen Regierungstruppen belagerten Vorort der Hauptstadt Damaskus zu bringen. Lebensmittel und Hygieneartikel für rund 3.500 Menschen seien in Muadamidscha abgeliefert worden, teilten das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und der Rote Halbmond am Sonntag mit.
In der abgelaufenen Woche waren bereits Lebensmittel für 12.000 Menschen in die Ortschaft gebracht worden. In Muadamidscha leben rund 45.000 Menschen. Keine Hilfen erreichten dagegen die benachbarte Ortschaft Daradscha, die ebenfalls von Rebellen kontrolliert wird.
Am Freitag hatten Regierungskräfte den Landstreifen zurückerobert, der bisher als Versorgungsroute für die beiden Rebellengebiete diente. Daradscha grenzt an einen Luftwaffenstützpunkt, vom dem aus russische Maschinen seit September ihre Einsätze gegen Gegner von Präsident Baschar al-Assad fliegen. Ein Sprecher der Rebellen warf der Regierung vor, die Einwohner Daradschas aushungern zu wollen.
Auch Emirate bereit zur Entsendung von Truppen
Nach Saudi-Arabien und Bahrain haben sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate zur Entsendung von Bodentruppen nach Syrien im Kampf gegen die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) bereit erklärt. „Wir sind frustriert darüber, wie schleppend gegen Daesh vorgegangen wird“, sagte Außenminister Anwar Gargash in Abu Dhabi, indem er den IS bei seiner arabischen Abkürzung nannte.
Bedingung sei, dass die USA den Einsatz anführten. Zuvor hatten sich auch Saudi-Arabien und Bahrain im Rahmen des rund 60 Staaten umfassenden Bündnisses gegen den IS für die Entsendung von Bodentruppen offen gezeigt. Syrien reagierte darauf mit der Drohung, man werde alle Angreifer in Särgen zurückschicken.
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