Wer hat’s erfunden?
Sie mag das Wort des Jahres 2015 sein, für die ÖVP ist sie seit fast drei Monaten erklärter Gegner: die Willkommenskultur. Die Partei sieht eine „naive“, „überzogene“ und „falsche Willkommenskultur“ in Österreich. Dabei war es die ÖVP selbst, die den Begriff vor wenigen Jahren in der politischen Diskussion stark machte.
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Der Bruch kam mit der Kritik an einer „grenzenlosen Willkommenskultur“. Gegen eine solche sprach sich Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) am 18. November vergangenen Jahres öffentlich aus. Die EU müsse sich davon weg „und hin zu einer Kultur der Vernunft und des Augenmaßes“ bewegen, sagte Mikl-Leitner vor einem Treffen mit Innenministerkollegen aus Ost- und Südosteuropa.
Mikl-Leitner blieb mit ihrer Kritik innerhalb der ÖVP nicht lange alleine. Kaum eine Woche später schoss der neue ÖVP-Wien-Chef Gernot Blümel gegen die SPÖ-Wien und ihre „naive und völlig überzogene Willkommenskultur“. Für Kärnten übernahm das Blümels Parteikollege, der Nationalratsabgeordnete Gabriel Obernosterer. Es bestehe die Hoffnung, „dass die SPÖ ihre unumschränkte Willkommenskultur endlich aufgibt“, so Obernosterer in einer Aussendung von Ende November 2015.
ÖVP als Förderer der Willkommenskultur
Ein ÖVP-Spitzenpolitiker vermied es bisher aber, in seiner Kritik dezidiert das Wort Willkommenskultur in den Mund zu nehmen: ÖVP-Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz. Der Außenminister sprach zuletzt lieber von einer „Einladungspolitik“, die er als „total falsch“ bezeichnete.
Kurz mag gute Gründe haben, den Begriff nicht in einem negativen Kontext zu verwenden. War es doch der ÖVP-Politiker selbst, der vor einigen Jahren versuchte, das Wort für Österreich zu prägen. Gemeinsam mit Vertretern der Wirtschaft warb Kurz bereits 2013 - noch als Integrationsstaatsekretär - für eine „Willkommenskultur in Österreich“.
Kurz: „Zu wenig Willkommenskultur“
Damals ging es in erster Linie um qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland, die für Österreich gewonnen werden sollten. Ende 2014 erweiterte Kurz allerdings den Fokus: Im November rief er die Kampagne „Zusammen: Österreich“, unter dem Schlagwort „#stolzdrauf“ ins Leben. Die hatte nun nicht nur hochqualifizierte Dienstnehmer im Blick, sondern sollte ganz generell die Integration in Österreich fördern. Dass „es in Österreich sehr viele Zuwanderer gibt, die sich noch nicht heimisch fühlen“, erklärte Kurz damals auch damit, dass „wir zu wenig Willkommenskultur haben“.
Frühe Kritik der FPÖ
Von einem gewünschten Ende der Willkommenskultur war damals in der ÖVP also sicher nicht die Rede, der Begriff war durch und durch positiv besetzt. Ganz anders sah das freilich bereits zu dieser Zeit aufseiten der FPÖ aus. Bereits im Mai 2013 warf die Partei SPÖ-Bürgermeistern vor, eine „Willkommenskultur für Asylwerber zu entwickeln“.
Anfang 2015 meinte der Wiener FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus sarkastisch, Österreich provoziere offenbar „bislang unbescholtene Asylwerber durch seine unterentwickelte ‚Willkommenskultur‘ zu Gewaltexzessen, Drogenhandel und anderen kriminellen Machenschaften“. Und er schlug vor, deshalb „unsere ‚Verabschiedungskultur‘“ nachzuschärfen.
Ähnlich äußerte sich Gudenus’ oberösterreichischer Parteikollege und dortiger Parteichef Manfred Haimbucher. Bei seiner letztjährigen Aschermittwochrede in Ried schlug er Willkommenskultur als Unwort des Jahres vor und monierte „eine fehlende Abschiedskultur“. Auch FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl und Parteichef Heinz-Christian Strache schossen im vergangenen Jahr gegen die „sozialromantische Willkommenskultur“ - Strache etwa Anfang Oktober auf einer FPÖ-Veranstaltung mit Thilo Sarrazin als Gast.
ÖVP-Onlinevoting für „Festung Europa“
Zu diesem Zeitpunkt ließ die ÖVP bereits auf ihrer Website darüber abstimmen, wie mit der Flüchtlingsbewegung Richtung Europa umgegangen werden sollte. „Willkommenskultur pflegen und die Flüchtlinge bestmöglich unterbringen“, lautete eine der Antwortmöglichkeiten. Gerade einmal 9,9 Prozent der Teilnehmer sprachen sich dafür aus. Die große Mehrheit, nämlich über 47 Prozent, wählte den zweiten von vier Vorschlägen aus: „Europäische Grenzen absichern (‚Festung Europa‘) und Asylverfahren zu Auffanglagern (‚Hotspots‘) an den EU-Außengrenzen verlagern“.
Auch der Begriff „Festung Europa“ hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Umdeutung durch die ÖVP erfahren. Es war ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner selbst, der Mitte September 2015 gegenüber den „Salzburger Nachrichten“ eine „Festung Europa“ als Devise für die EU-Flüchtlingspolitik ausgab. Wenig später sprach auch Innenministerin Mikl-Leitner davon, dass Europa an einer „Festung Europa“ bauen müsse - die ÖVP-Politikerin wiederholte und verteidigte ihre Forderung seitdem noch viele Male.
Nazi-Begriff auf Wanderschaft
Erfunden hat die ÖVP den Begriff freilich nicht. Er reicht weit ins 20. Jahrhundert zurück, genau genommen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nach dem gescheiterten Russland-Feldzug Nazi-Deutschlands sprach die nationalsozialistische Propaganda von den deutsch besetzten Gebieten als „Festung Europa“, die es gegen die Bolschewiken zu verteidigen gelte.
Im Nachkriegseuropa fand der Begriff Eingang in die Wirtschaftspolitik. Die „Festung Europa“ war hier das zu vermeidende Gegenmodell zu einem freien Welthandel. Aber auch bei Diskussionen zur europäischen Flüchtlingspolitik tauchte die Beschreibung in der Vergangenheit auf - wenn auch hier zumeist negativ besetzt. Bis vor Kurzem schrieben sich einzig rechte Gruppen den Begriff sprichwörtlich auf ihre Fahnen. So demonstrierte die rechtsextreme Bewegung der „Identitären“ in den vergangenen Jahren mit Transparenten, auf denen eine „Festung Europa“ eingefordert wurde.
Ab Mitte 2015 fanden Forderung und Begriff schließlich Eingang in die Rhetorik der FPÖ. „Wir sollten endlich den Mut haben zu sagen, dass es eine Festung Europa braucht“, so FPÖ-OÖ-Chef Haimbuchner im Juni per Aussendung. Zwei Monate später warf Strache der EU ein „völliges Versagen“ vor, eine „Festung Europa“ sicherzustellen. Nicht einmal drei Wochen später trat ÖVP-Chef Mitterlehner mit seiner eigenen Strategie für eine „Festung Europa“ an. Der Begriff war in der österreichischen Regierung angekommen.
Martin Steinmüller, ORF.at
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