Unverständlich ist nicht nur die Sprache
Mitleid bringt nichts, und Flüchtlinge auf den Platz der armen Hascherln und Opfer zu verweisen genauso wenig. Auch Angst ist fehl am Platz - kriegstraumatisierte Menschen sind keine Gefahr für ihre Mitmenschen. Experten räumen mit Vorurteilen auf.
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Eine Gruppe Flüchtlinge sitzt rund um den Tisch. Sie erzählen von der syrischen Stadt, aus der sie kommen. Vor dem Laptop mit Google Maps wird darüber diskutiert, wer in welchem Haus gewohnt hat. Geschwärmt wird vom großen Garten mit den Olivenbäumen. Dutzende Bomben haben da mittlerweile eingeschlagen. Fotos vom Herumalbern mit den Freunden werden gezeigt, es wird gelacht - und dann mit dem Finger auf jene gezeigt, die nicht mehr leben.
Wer sich Flüchtlinge als Menschen vorstellt, die weinend über ihr Leid klagen und dankbar sind für stundenlange Gespräche zur Aufarbeitung des Erlebten, der wird oft eines Besseren belehrt. Das Smartphone mit den Fotos wird beiseite gelegt, kurz nachdenklich der Kopf geschüttelt, ein Blick geht ins Leere - und schon blödelt und streitet man bei einer Shisha, als wäre nichts gewesen.
Geld kassieren und Partys feiern?
Genau das strahlen viele Flüchtlinge auch auf den Straßen und in den U-Bahnen aus: laute Geschäftigkeit, eine aufgekratzte Stimmung statt Demut und Trauer. Auf viele Österreicher wirkt das wie ein Hohn: Von wegen Kriegsflüchtlinge, die sind gekommen, um Geld zu kassieren und Party zu machen. Das ist jedoch ein fundamentales kulturelles Missverständnis, denn die Sprache des Leides ist von Weltregion zu Weltregion unterschiedlich, wie Thomas Wenzel, Experte für transkulturelle Psychiatrie am AKH Wien, gegenüber ORF.at erklärt.

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Flüchtlinge in Spielfeld
Eine posttraumatische Belastungsstörung wird jener Zustand genannt, in dem sich viele Opfer von Krieg und Folter befinden: eine Form von Stress, die zum psychischen Problem wird. Und psychische Probleme sind in vielen Gesellschaften streng tabuisiert - die ganze Familie schämt sich dafür, sagt Weber. Gehört man einer solchen Familie an, hat man es etwa schwerer, einen Partner fürs Leben zu finden. Wer weiß - vielleicht sind solche Krankheiten ja vererbbar?
Übersetzer für die Sprache des Leides
Psychische Probleme werden deshalb nicht direkt wahrgenommen und angesprochen, im Sinn von „ich bin traurig, ich bin depressiv“, sondern die Grenze zwischen Körper und Psyche verschwimmt. Schwindel, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Kältegefühl und Müdigkeit werden thematisiert. Früher gab es das auch in heimischen Gefilden - man denke an die „Ohnmacht“ rund um die vorige Jahrhundertwende, wo dann besorgte Umstehende mit Riechsalz und Zuspruch zur Stelle waren.
Das heißt: Auf Umwegen drückt man aus, dass es einem nicht gutgeht und holt sich auf diesem Weg Hilfe. Wenzel sagt, es gibt sogar eine Begriffsliste für Psychiater, in der erklärt wird, welches körperliche Leiden für welche psychischen Probleme steht. Nicole Grois, eine Kinderärztin, die viel mit Flüchtlingen arbeitet, bestätigt das. Sie erzählt von zwei Geschwistern aus Tschetschenien, die mit ihrer schwer traumatisierten Mutter in die Ordination gekommen seien.
Besessen und verhext
Die Mutter habe sich wortlos in die Ecke zurückgezogen, das Mädchen und der Bursch seien mit gebückter Körperhaltung gesessen und hätten über quälende Kopfschmerzen geklagt. Grois lebt in ihrer Praxis das, was man 2015 „Willkommenskultur“ genannt hat. Im Gang zum Ordinationszimmer werden Gäste an der Wand bunt und in zahlreichen Sprachen begrüßt. Immer wieder kommen Familien wie diese aus den umliegenden Flüchtlingsunterkünften zu ihr.

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Grois ist um eine kinderfreundliche Atmosphäre bemüht - siehe die Dampfwalze
Aber nicht nur psychosomatische Beschwerden treten auf. Menschen aus traditionellen Gesellschaften haben mitunter religiöse Erklärungen für die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Psychiater Wenzel berichtet von Kriegsveteranen aus Uganda, die ihren Zustand als Bedrängnis von einem Geist interpretieren. Und im Kosovo hätten manche Menschen nach dem Krieg gedacht, sie seien verhext worden.
Die Erleichterung lässt warten
Psychische Leiden kommen also auf verschlungenen Pfaden an die Oberfläche, und es sind ausgeklügelte Sprachcodes, mittels derer Menschen ausdrücken, dass es ihnen psychisch nicht gut geht - noch dazu in einer symbolischen Sprache, die außerhalb der eigenen Region nicht verstanden wird. Sowohl der Psychiater, als auch die Kinderärztin setzen sich dafür ein, dass niedergelassene Ärzte diesbezüglich noch mehr sensibilisiert werden.

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Thomas Wenzel, Experte für transkulturelle Psychiatrie am AKH Wien
Denn die aktuelle Situation in Österreich trägt nicht gerade zu einer raschen Lösung der Probleme von Flüchtlingen bei. Zustände wie im nunmehr geschlossenen Ferry-Dusika-Stadion in Wien oder vorigen Sommer im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen sind belastend - genauso wie das bange Warten auf einen positiven Asylbescheid, die erzwungene Untätigkeit und die Angst um die in der Heimat verbliebene Familie.
Die lähmende Ruhe nach dem Sturm
Eine Syrerin, die bereits Asyl erhalten hat, macht sich etwa Sorgen um einen nahen Verwandten, der schon vor Monaten von Beamten des Präsidenten Baschar al-Assad festgenommen worden war und von dem man seither nichts mehr gehört hat. Erst vor Kurzem reiste einer ihrer Brüder durch Österreich, mit zahlreichen Narben infolge eines Bombeneinschlags, den er nur knapp überlebt hatte - als einziger von jenen Freunden, die zusammengesessen waren. Die Eltern der Frau sind immer noch in Syrien und somit in Gefahr. Oft klagt sie über Müdigkeit und schläft auch untertags.
Vor dem Krieg die Despotenherrschaft
Psychiater Thomas Wenzel führt aus, dass viele Menschen nicht nur schreckliche Kriegserlebnisse aufarbeiten müssen. Beispiel Syrien: Dort habe schon vor dem Krieg ein schreckliches Regime geherrscht, in dem Willkür, Folter, das „Veschwindenlassen“ von Menschen, Bespitzelung und damit permanentes Misstrauen an der Tagesordnung gestanden seien.
Als besonders drückend wird die Langeweile empfunden, sagt Psychiater Wenzel. Während der Flucht und in den ersten Wochen des Asylverfahrens ist man noch beschäftigt. Aber dann bricht die Ruhe lähmend über einen herein, weil es für Deutschkurse momentan lange Wartelisten gibt und man ohne solide Grundkenntnisse in Deutsch keinen Job findet. Dann heißt es immer öfter: herumsitzen und sich lustlos mit dem Handy beschäftigen. Facebook, Whatsapp, Viber, Spiele, Videos aus der Heimat, alte Fotos.
Die Kinder fühlen sich schuldig
So mancher fällt in ein tiefes Loch, kann nicht mehr schlafen, hat Alpträume, ist untertags müde, gleichzeitig antriebslos und gestresst, sprich: gereizt. Gerade Männer sind in ihrem Selbstwert verletzt. Symbolisches, kulturelles Kapital, das man sich in der Heimat erarbeitet hat, zählt nichts mehr, berufliche Kompetenzen sind auch nichts mehr wert - als Ernährer der Familie fällt man aus.
Alles zusammen ergibt innerhalb der Familien eine explosive Mischung, zumal bei den prekären, engen Wohnverhältnissen der Flüchtlinge. Das wirkt sich auf die Kinder aus, sagt Psychiater Wenzel - sie fühlten sich schuldig: „‚Ich habe irgendetwas falsch gemacht. Deshalb ist Papa jetzt so unruhig.‘ Die Kinder sind mittraumatisiert. Die Familie leidet immer als Ganzes.“
„Rausholen aus belastendem Familienleben“
Kinderärztin Grois erzählt von vielen Familien, in denen auch schon sehr junge Kinder ständig als Übersetzer und Begleiter bei belastenden Amtswegen und Arztbesuchen herhalten müssen. Das bedeutet eine große Verantwortung, der man in jungen Jahren eigentlich nicht gewachsen ist.

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Besonders für Kinder ist die Situation belastend - auch auf lange Sicht
Grois: „Ganz viele haben depressive Probleme. Das hängt sicher damit zusammen, dass die Situation in der Familie furchtbar ist. Dass Väter, sofern sie überhaupt da sind, fast alle arbeitslos sind und zu Hause herumsitzen. Das belastet die Kinder enorm. Was sehr wichtig ist, ist, dass sie viel mehr in unsere Gesellschaft eingebunden gehören, rausgeholt gehören aus diesem belastenden Familienleben und dass wir viel mehr an sozialem Angebot machen sollten.“
Taekwondo auf Rezept
Grois hat den zwei tschetschenischen Jugendlichen mit den Kopfschmerzen regelmäßiges Taekwondo-Training „verschrieben“. Beim nächsten Besuch bedankte sich die Familie - die Kopfschmerzen waren Geschichte, ein Stück Freude am Leben war zurückgekehrt. Ähnliches berichtet auch Wenzel. Die transkulturelle Psychiatrie arbeitet längst mit unkonventionellen Methoden - weil man als Psychiater aufgrund der Vorbehalte vieler Flüchtlinge nur schwer an die Menschen herankommt.

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Grois: Taekwondo statt Schmerztabletten
In Norwegen zum Beispiel werde bereits sehr fortschrittlich vorgegangen. Sport spielt dabei eine große Rolle, insgesamt wird sehr körperorientiert gearbeitet. So wurden etwa in einem Projekt traditionelle Tänze geprobt und aufgeführt, um auch die ethnische Würde und das kulturelle Selbstverständnis wieder aufzubauen.
Man hätte es wissen müssen
Im Kosovo wiederum sei ein Bus von Dorf zu Dorf gefahren. Dort konnte man sich Bücher ausleihen und Tee trinken, diskret war hinten ein Therapeut mit an Bord, der für Gespräche zur Verfügung stand. Ein weiterer Ansatz sei, keine Fragebögen zu verteilen, um herauszufinden, wo Probleme liegen, sondern lieber eine Zeitlang mit den Menschen zusammenzuleben.
Kinderärztin Grois wiederum ist maßgeblich in ärztlichen Organisationen aktiv. Gefordert wird eine bessere Zusammenarbeit mit den Erstaufnahmezentren. Dort solle am Besten immer ein Kinderarzt anwesend sein. Zumindest aber müsse der Informationsfluss von den Flüchtlingslagern in Richtung der niedergelassenen Ärzte verbessert werden. Grois sagt, Experten hätten schon seit Jahren gewarnt, dass jeden Moment eine Massenankunft von Flüchtlingen bevorstünde. Man hätte sich besser vorbereiten können.
Schuldkomplex für ganz Österreich?
Aber weder sie noch Psychiater Wenzel wollen in ein Lamento einstimmen. In vielen Institutionen sei getan worden, was unter den gegebenen Umständen möglich gewesen sei, ganz zu schweigen vom immensen Einsatz der Freiwilligen. Grois berichtet etwa von einem fast lückenlosen 24-Stunden-Einsatz von Kinderärztinnen und -ärzten, als der Andrang auf den Bahnhöfen in Wien am größten gewesen sei. Wenzel resümiert: Einen Schuldkomplex müsse sich Österreich als Nation nicht aufbürden.
Grois und Wenzel sind zwei Experten, die nicht zum Dramatisieren neigen. Grois empfängt zum Interview in einem hellen, großen Ordinationszimmer und tritt als agile und lebendige Gesprächspartnerin auf. Wenzel sucht zum Gespräch in einem kleinen Aufenthaltsraum im AKH Zuflucht, spricht leise und höchst konzentriert, hat aber immer wieder zwischendurch einen Scherz auf den Lippen. Ein Schmunzeln kann er sich etwa nicht verkneifen, wenn er an die aktuelle Debatte über „Ethikunterricht“ für Flüchtlinge denkt. Den würde er sich auch wünschen - aber eher für so manchen Politiker.
Kriegstrauma bedeutet nicht Aggression
Überhaupt wollen beide die Situation nicht dramatisieren. Es gebe keinen Grund zu befürchten, dass es wegen kriegstraumatisierter Menschen zu einer Häufung von Gewalttaten komme, sagt Wenzel und erinnert an die „Aufbaugeneration“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich. Kriegstraumatisierte Menschen leiden meist still und werden durch Medikamente manchmal noch ruhiger.
Warnung vor hohen Folgekosten
Außerdem: Bei vielen Flüchtlingen würde das Trauma nach einigen Jahren von selbst zurückgehen. Wenzel warnt davor, das Potenzial dieser Menschen zu unterschätzen. Grois streicht besonders das enorme Potenzial der Kinder hervor und deren Willen, aus ihrem Leben etwas zu machen:
„Sie wollen einfach nur Frieden und Ruhe und ein Leben und eine Zukunft. Es liegt an uns, wie wir ihnen das ermöglichen. Je offener wir sind, je aufmerksamer wir sind, auf ihre Bedürfnisse und Nöte einzugehen, je besser wir sie unterstützen, desto freudiger können sie Teil unserer Gesellschaft werden. Wenn wir das nicht tun, wenn wir das verzögern, wenn wir damit zu spät kommen, sei das medizinisch oder sozial, dann sind die Folgekosten für die Gesellschaft ungleich höher.“
„Skrupellose Politiker“
Das bedeutet: Geld müsste in die Hand genommen werden. Für Freizeitangebote, für sogenannte niederschwellige Projekte, zu denen Flüchtlinge leicht Zugang haben, und für ein passgenaues Angebot vonseiten des Gesundheitssystems. Aber das ist schwierig - solange Politiker den Eindruck haben, in der Gesellschaft herrsche die Meinung vor, man solle für die Flüchtlinge nicht allzu tief in die Tasche greifen.
Wenzel zeigt Verständnis für die Angst vor Fremden, die neu dazukommen. Diese Angst sei ganz normal und würde sich mit der Zeit wieder geben - aber nur, wenn mit ihr verantwortungsvoll umgegangen werde: „Da gehören schon skrupellose Politiker dazu, in dieser Situation, die durchaus Stress machen kann, nicht konstruktive Lösungen anzubieten, sondern anderes an die Oberfläche zu bringen.“
Simon Hadler, ORF.at
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