„Blutgeld“ für die IS-Kriegskasse
Sar al-Bojan, Ergon Abo und Mirna Licho leben, wie geschätzte zwei Millionen weitere vor dem Krieg geflüchtete Syrer, derzeit im Libanon. Als Mitglieder einer religiösen Minderheit zählen die drei assyrischen Christen zu den erklärten Feindbildern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Gegenüber ORF.at schilderten sie ihre von den Dschihadisten erzwungene Flucht.
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Selbst nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Frühjahr 2011 sah Bojan nicht nur wegen „zwei Jobs, zwei Autos und eines Hauses“ dafür lange keinen Anlass. Weder vom Regime von Langzeitmachthaber Baschir al-Assad noch unter der Freien Syrischen Armee, die später die syrische Stadt al-Rakka weitgehend kontrollierte, sah sich der 48-Jährige bedroht. Schlagartig geändert habe das Mitte 2013 aber die nur in acht Tagen erfolgte Eroberung der Stadt durch Kämpfer des IS.

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Bojan zahlte umgerechnet 5.500 Euro „Blutgeld“ an den IS
Viele Christen seien sofort getötet worden - andere hätten nur dank der Bezahlung von „Blutgeld“ überlebt. Er selbst habe umgerechnet 5.500 Euro bezahlt. Nur einen Monat später sei in einer Moschee dann ein generelles „Todesurteil“ für alle Christen ausgesprochen worden. An der Umsetzung bestand offenbar kein Zweifel: Bereits am Tag darauf verließ Bojan zusammen mit seiner Familie die Stadt fluchtartig, zunächst für rund acht Monate Richtung Aleppo.
„Zehn Prozent aus Europa“
Immer wieder sei er an den zahllosen Checkpoints wegen seiner Herkunft aus al-Rakka vom syrischen Militär verhaftet worden, deshalb, aber auch wegen der zunehmenden Kämpfe in und um die seit Jahren umkämpfte syrische Metropole habe er sich schließlich vor fünf Monaten zur Flucht in den Libanon entschieden. Obwohl er die Terrorherrschaft des IS in al-Rakka nur kurz miterlebt habe, sei er auch Zeuge etlicher Morde gewesen - Todesurteile habe es bereits wegen des Besitzes eines Handys gegeben.
Er und seine Familienangehörigen seien mit der ständigen Gefahr einer Verhaftung konfrontiert gewesen. Auf die Frage, ob es auch ihm bekannte Gesichter unter den IS-Kämpfer gab, sagte Bojan, dass sich sehr wohl auch einige Bewohner al-Rakkas dem IS angeschlossen hätten - der Großteil sei aber aus dem Ausland gekommen, neben Dschihadisten aus Ländern wie Pakistan und Saudi-Arabien auch „zehn Prozent aus Europa und 20 Prozent aus der Türkei“.
Mit 10.000 Dollar freigekauft
Laut dem für die Nahost-Koordination der Caritas Österreich zuständigen Stefan Maier handelt es sich bei Bojans Flucht um eine „ganz typische Geschichte“ für Mitglieder der einst in Syrien lebenden christlichen Minderheit: „Die umgebracht worden sind, sind nicht mehr da, um erzählen zu können, und die, die noch am Leben sind, haben gewöhnlich solche Geschichten, dass sie all ihre Ersparnisse hergeben mussten, damit sie am Leben gelassen werden, um davonlaufen zu können.“

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Abo fürchtete in einem IS-Gefängnis um sein Leben
Dem IS gehe es somit nicht nur darum, die von ihnen kontrollierten Gebiete „christenfrei“ zu machen - die Dschihadisten wollten auch „Profit machen“. Geld für die IS-Kriegskasse kam jedenfalls auch vom 45-jährigen Abo, dem nur dank einer Lösegeldzahlung seiner in Deutschland lebenden Verwandten die Flucht aus der nordsyrischen Christenhochburg Hassake gelang. Der Preis für seine Freilassung habe umgerechnet 9.000 Euro betragen, so Abo, für andere Mitglieder seiner Gemeinde hätten im Ausland lebende Familienmitglieder aber auch bis zu 45.000 Euro bezahlt.
Kaum ein Christ lebt Abo zufolge noch in der am Fluss Chabur gelegenen Region, in welcher der IS im Frühjahr einmarschierte und wo zuletzt den kurdischen Peschmerga die Rückeroberung von rund 20 ehemals christlichen Dörfern gelang. Allein in seinem Dorf seien laut Abo wohl nur noch 200 bis 300 von ursprünglich 4.000 Christen. Nach wie vor seien zudem Dutzende vor Monaten aus mehreren Ortschaften entführte Christen in IS-Geiselhaft.
Unter IS weiter gearbeitet
Abo blieb diese zunächst erspart - vielmehr habe er auch unter dem IS seine Tätigkeit als Lebensmittelzulieferer weiter fortgeführt. Ein Bild aus dieser Zeit zeigte Abo auf seinem Handy. „Sie haben mich gebraucht“, so Abo, der, als der IS alle Christen der Region zu Terroristen erklärte, schließlich doch in einem Gefängnis der Dschihadisten landete.

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Auch unter dem IS arbeitete Abo zunächst weiter als Lebensmittelzulieferer
Über das Lösegeld und seine Freilassung sei schließlich über einen Mittelsmann zwischen der regionalen IS-Führung und Kurden verhandelt worden - bis zur erlösenden Nachricht seien zwei Monate verstrichen, und in dieser Zeit habe er unter Todesangst nahezu täglich Vorbereitungen von Hinrichtungen mitansehen müssen.
Eine der ältesten Kirchen
Die assyrischen Christen gehören einer der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt an. Sie sind Teil eines wahren Flickenteppichs christlicher Kirchen im Vorderen Orient und sehen sich als Nachfahren der historischen Assyrer - mehr dazu in religion.ORF.at.
So wie Bojan ist auch Abo mit seiner Familie in die Hauptstadt der an Syrien grenzenden Bekaa-Ebene, Sahla, geflüchtet. Die Hoffnung auf eine Rückkehr in sein Heimatdorf hat er aufgegeben. Er verwies vielmehr auf ein laufendes Aufnahmeverfahren in Australien, wo er neben Deutschland, den Niederlanden und den USA ebenfalls enge Verwandte hat.
Ehemann von al-Nusra gefoltert
Auf ein Leben in Australien hofft auch die 39-jährige Licho, die zusammen mit ihrem Mann und ihrer Mutter bereits vor zwei Jahren ihren syrischen Heimatort Saidanaja Richtung Sahla verließ. Die rund 30 Kilometer nördlich von Damaskus gelegene und noch immer von der Al-Nusra-Front gehaltene Ortschaft war Licho zufolge Ziel heftiger Bombardements durch die syrische Armee. Mittlerweile sei dort alles zerstört und allein aus diesem Grund an keine baldige Rückkehr zu denken.

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Licho finanzierte mit dem Verkauf von Möbeln die Flucht in den Libanon
Zerstört sei auch die Hoffnung auf ausreichend Sicherheit in ihrer einstigen Heimat. Im Migrationszentrum von Caritas Libanon in Sahla erzählt Licho von der Entführung ihres als Taxifahrer arbeitenden Ehemannes. Nachdem man ihn bereits tot geglaubt habe, habe man ihn am nächsten Tag schwer verletzt in einem Auto am Straßenrand gefunden und ins Krankenhaus gebracht. „Er wurde entführt und gefoltert, weil er Christ war“, wie Licho weiter sagte.
Nicht nur die anhaltenden Kämpfe, auch die Angst vor einer neuerlichen Entführung sei somit der Grund für die Flucht in den Libanon gewesen. Finanziert hätten sie diese mit dem Verkauf von Möbeln - alles andere wurde zurückgelassen. In Sahla wurde Licho von Freunden aufgenommen, nun kann sie auch auf die Unterstützung von Bekannten in Australien und ein von diesen stammendes „Einladungsschreiben“ setzen. Licho hofft auf eine baldige Zusage der Behörden - ob bzw. wann es diese geben wird, wagt sie derzeit allerdings nicht einmal abzuschätzen.
Peter Prantner, ORF.at
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