„Massiver Schiffbruch“
Seit 1967 - also nur 16 Jahre nach dem Beginn der europäischen Einigung mit Gründung der Stahl- und Montanunion - wird in Europa versucht, die Mehrwertsteuersysteme zu harmonisieren. Doch auch 48 Jahre später ist die nunmehrige EU der 28 noch meilenweit von einem einheitlichen Umsatzsteuersystem entfernt, das eigentlich spätestens mit dem gemeinsamen Binnenmarkt hätte eingeführt werden müssen.
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Das ist bemerkenswert, weil die europäischen Staaten es dadurch Betrügern ermöglichen, sie Jahr für Jahr um Milliarden Euro an Steuergeld zu betrügen. Für Österreich allein bezifferte Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) den Schaden mit 500 Millionen Euro. Der Generaldirektor Steuern und Zölle der EU-Kommission, der Österreicher Heinz Zourek, spricht offen von organisierter Kriminalität. Und er betont: Dieses Geld werde teils nachweislich für die Terrorfinanzierung verwendet. Es gebe konkrete Fälle - auf Nachfrage wollte Zourek gegenüber ORF.at allerdings keine Details nennen.
„Verbindungen zu Terroraktivitäten“
In einem Interview für das Fachmagazin „Eurojust News“ betonte aber auch der Leiter der Spezialeinheit Karussellbetrug bei Europol, Chris Peryman: Der großangelegte Mehrwertsteuerbetrug finanziere mit Sicherheit anderen großangelegten Betrug wie Zigaretten- und Drogenschmuggel, und „auch Verbindungen zu Terroraktivitäten wurden hergestellt“.
Auf eine schriftliche Anfrage von ORF.at betonte Interpol lediglich, dass es keine Informationen über einzelne Fälle bekanntgebe, und verwies auf Europol. Eine Anfrage bei Europol blieb unbeantwortet. Angesichts der Geheimhaltung der Behörden kann die behauptete Verbindung von Mehrwertsteuerbetrug und Terrorgruppen nicht überprüft werden. Klar ist, dass eine nachweisbare Verbindung dem Kampf gegen diese Betrugsform eine ganz neue Dringlichkeit verliehe - und den politischen Druck in Bezug auf mehr Datenaustausch und Vereinheitlichung erheblich verstärken könnte.

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Die Europol-Zentrale in Den Haag könnte nach den Anschlägen in Paris mehr Aufgaben und Kompetenzen bekommen
Der Azizi-Fall
Zumindest in einem konkreten, gerichtsanhängigen, Fall findet sich diese Verbindung wieder: Deutschland stellte 2014 in den USA einen Auslieferungsantrag für Samir Azizi, der ein Jahr später, im April dieses Jahres, tatsächlich ausgeliefert wurde. Dieser habe, so der Vorwurf der deutschen Staatsanwaltschaft in ihrem Auslieferungsbegehren, in 89 Fällen von Karussellbetrug die Finanzbehörden insgesamt um mehr als 61 Millionen Euro betrogen.

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Den Streit über die Mehrwertsteuer hat Heinz Zourek vor Jahren von seinem Vorgänger übernommen. Auch er kann seinem Nachfolger nur eine „Unvollendete“ weiterreichen.
Der Fall ist interessant, weil er einen seltenen Einblick in die Welt des Karussellbetrugs und dessen juristischer Verfolgung bietet. Möglich ist das nur, weil in den USA die Entscheidungen veröffentlicht werden. Der zuständige US-Richter verweist darin darauf, dass es in dem Fall „Hinweise gibt, dass die Täter die durch diesen Betrug beschaffte Mehrwertsteuer nicht nur zur persönlichen Bereicherung, sondern auch zur Finanzierung von Terror nutzten“. Details werden aber auch hier nicht genannt.
Interessant ist, dass Deutschland zwar den Terrorkonnex explizit herstellt - in der Anklage findet sich das aber nicht wieder, wie Richard Ainsworth von der Boston University in einer Untersuchung des Falls betont. Das wohl überraschendste Detail in diesem Fall: Azizi war erst 16 Jahre alt, als er laut Staatsanwaltschaft erstmals mit Karussellbetrug in Berührung kam.
„Verschwundener Händler“
Beim Karussellbetrug können Betrüger Waren derzeit zwischen mehreren EU-Ländern im Kreis schicken. Die Umsatzsteuer wird dann vom Lieferanten zwar in Rechnung gestellt, und der Empfänger der Ware kann sich das Geld von der Finanz zurückholen („Vorsteuerabzug“). Der Lieferant führt die Steuer aber nicht ab und meldet Konkurs an oder verschwindet überhaupt von der Bildfläche - im Englischen spricht man daher auch vom „missing trader“ (zu Deutsch: verschwundener Händler). Der Fiskus bleibt auf den Kosten sitzen. Wie bei einem Karussell kann dasselbe Geschäft mit derselben Ware immer wieder vollzogen werden, und jedes Mal kann von den Finanzbehörden eines Landes via Vorsteuerabzug Geld bezogen werden.
Es brauche eine gewisse Zeit, „eine solche Betrugskette aufzubauen“, und es dauere, bis diese sich rentiere, da auch Investitionen erforderlich seien. Daher sei es so wichtig, schnell zugreifen zu können, so Zourek. Voraussetzung dafür ist der derzeit mangelnde Informationsaustausch zwischen den nationalen Finanzbehörden. Das sei zugleich auch die effektivste Prävention, ist Zourek, der mit Jahresende in Pension geht, überzeugt.
Excel-Dateien gegen Betrüger
Bereits 2010 wurde von der EU daher ein Netzwerk zur Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug, Eurofisc genannt, eingerichtet. Ein Schlaglicht auf die ganz grundsätzlichen Probleme, die es hier noch gibt, warf zuletzt der österreichische Rechnungshof (RH). Dieser stellte in einem Prüfbericht im November gravierende Mängel beim Eurofisc fest. Das System ist quasi steinzeitlich: Es gibt nämlich keine gemeinsame Datenbank, Daten werden vielmehr als Excel-Dateien zwischen den Finanzbehörden hin- und hergeschickt. Elektronische Analysen seien daher „nur durch mühsame Zusammenführung einzelner Excel–Dateien möglich“.
Die Qualität der Daten ist zudem mehr als mangelhaft: Nur zwölf Prozent der Daten lieferten brauchbare Hinweise - bei auf Österreich bezogenes Material lag die Rate gar bei einem Prozent. Mit einem Wort: Auf absehbare Zeit werden die Betrüger, die ihren Betrug oft online in sekundenschnellen Transaktionen durchführen, schneller bleiben als die Behörden.
„Dogmatische Schranken“
Die erstaunliche Tatsache, dass die EU-Staaten sich lieber seit Jahrzehnten organisiert betrügen lassen, als etwas zu unternehmen, erklärt Zourek recht nüchtern: Es gebe einerseits Länder, die vom Karussellbetrug nicht betroffen seien. Diese lehnten nach dem Motto „Was geht uns das an“ eine engere Kooperation ab. Außerdem würden hier „dogmatische Schranken“ errichtet: Es gebe unter den EU-Staaten ein großes gegenseitiges Misstrauen, ob der jeweils andere wirklich alles einhebe und auch abliefere. Es fehle das Vertrauen in die Qualität der Finanzkontrolle. Hier gebe es ein „Nord-Süd-Gefälle“.
Zusätzlich kompliziert werde die Kooperation durch völlig unterschiedliche juristische Traditionen: Im einen Land sei Karussellbetrug ein Verwaltungsdelikt, im nächsten eine strafrechtliche Frage, im dritten Land werde Steuerbetrug gar nicht geahndet, so Zourek.
Mentale Hürde
Der Steuerexperte sieht freilich auch eine große mentale Hürde: Zöllner seien es „seit Jahrtausenden gewöhnt“, grenzüberschreitend zu denken und zu agieren. Kooperation sei in beiderseitigem Interesse. Steuerbehörden dagegen hätten immer national oder regional agiert. Sie seien eher davon überzeugt, dass die Finanzbeamten aus anderen Ländern „hinter ihren Einnahmen her sind“, und betrachteten diese daher „als potenzielle Konkurrenten“.
Zourek zieht einen aktuellen Vergleich: Auch die Terrorbekämpfung in Europa leide weniger an den fehlenden Instrumenten, vielmehr mangle es an der Kommunikation zwischen den Behörden der verschiedenen Staaten. Die belgische Polizei habe die Attentäter der Anschläge von Paris ja gekannt - die Information aber nie an die französischen Kollegen weitergegeben.
Schwierige Suche nach richtigem System
Da das derzeitige System durch den Binnenmarkt so betrugsanfällig geworden ist, sucht die Kommission seit Jahren nach einem neuen europaweit einheitlichen Standard. Bereits 2010 stellte die Kommission in einem Grünbuch die möglichen Alternativen für das aktuelle - provisorische - Schema vor. Die derzeit bestehenden zwölf Systeme werden laut Zourek nun auf zwei bis drei Alternativen „kondensiert“, die im Frühjahr präsentiert werden sollen. Diese wolle man dann genauer und konkreter durchspielen, etwa bezüglich Durchführung und Kontrolle.
Im Grunde soll es darauf hinauslaufen, dass nicht am Sitz des Verkäufers, sondern des Endabnehmers die Mehrwertsteuer fällig werden soll - und auch die dort jeweils gültigen Steuersätze zur Anwendung kommen. Das verhindere auch Verzerrungen des Marktes etwa im grenznahen Bereich, da dann der mögliche Steuervorteil wegfalle, so Zourek.
Umkehrung des Schuldnerprinzips
Eine Möglichkeit sei die Reverse Charge, also die Umkehr der Steuerschuld bei der Mehrwertsteuer. Konkret müsste dann der Endverbraucher die Mehrwertsteuer an das Finanzamt abliefern, nicht der letzte Verkäufer in der Kette. Auch im Supermarkt müsste der Konsument dann die Mehrwertsteuer selbst entrichten, nicht die Kette. Da das in der Praxis aber nicht umsetzbar ist, könnte ein Abrechnungssystem eingeführt werden, das automatisch die Abgabe ans Finanzamt transferiert, ohne dass diese jemals in den Rechnungsbüchern des Geschäfts aufscheint.
Dieses System wird von Österreich favorisiert, und Schelling wirbt innerhalb der EU auch, gemeinsam mit ein paar anderen Ländern, für dieses Modell. Laut Zourek sind aber nicht alle Länder davon überzeugt - jedoch sei nur ein einheitliches System sinnvoll.
Misstrauen kostet Milliarden
Und der Österreicher verweist auf die größte Hürde: Alle EU-Länder müssen mitziehen, da im Steuerbereich Einstimmigkeit herrscht. Genau deshalb habe sein Ressort in einer Detailfrage erst unlängst „einen ziemlich massiven Schiffbruch erlitten“. Die Kommission hatte vorgeschlagen, die Mehrwertsteuerformulare zu vereinheitlichen, deren Umfang derzeit zwischen neun und 230 anzukreuzenden Kästchen schwankt. Die 28 Finanzminister konnten sich aber nicht einigen.
Auch wenn Zourek das im Interview so nicht sagen will - indirekt räumt er ein, dass wegen nationaler Egoismen und gegenseitigen Misstrauens die milliardenschweren Karussellbetrügereien auf Kosten der Steuerzahler weitergehen werden.
Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel
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