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Spiegel der EU-Geschichte

Die Mehrwertsteuer (MwSt.) steht ganz am Anfang der europäischen Einigung und in vielerlei Hinsicht spiegelt sich hier im Kleinen die gesamte Geschichte der Union.

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Das Ziel, die Umsatzbesteuerung zu harmonisieren, wurde bereits in den Römischen Verträgen, mit denen die 1952 gegründete Montanunion fünf Jahre später zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erweitert wurde, festgeschrieben. Doch auch mehr als 50 Jahre danach ist das ursprünglich gesetzte Ziel noch lange nicht vollständig umgesetzt.

In den sechs EWG-Gründungsmitgliedern (Frankreich, Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Italien) galten zu diesem Zeitpunkt völlig verschiedene Umsatzbesteuerungen. Da es sich meist um kumulative Steuern handelte, bestand stets die Gefahr, dass die Exporte von den einzelnen Staaten subventioniert wurden, indem sie den Betrag der bei der Ausfuhr zu erstattenden Steuer absichtlich oder unabsichtlich zu hoch ansetzen - und damit einen Preisvorteil haben. Eine einheitliche MwSt. soll genau diese Steuerneutralität garantieren.

Kumulative Steuern

Bei dieser Form der Besteuerung werden Steuern nicht einmal, sondern - im Fall der Umsatzsteuer - mehrmals im Verlauf der Herstellung und des Verkaufs eingehoben. Dadurch wird es schwierig, festzustellen, wie viel Steuern tatsächlich im Endpreis eines Produkts enthalten sind.

Bedingung für Beitritt

Da in den Gründungsverträgen festgelegt, war und ist die Übernahme der MwSt.-Regelung Voraussetzung für den EU-Beitritt. So musste auch Großbritannien wenige Monate nach dem EWG-Beitritt am 1. April 1973 eine Mehrwertsteuer einführen. Zuvor hatte es - so wie in den USA noch heute - eine Sales tax (Umsatzsteuer) gegeben.

1967 wurden die ersten beiden MwSt.-Richtlinien erlassen, mit denen die sonstigen Umsatzsteuern in den Mitgliedstaaten abgelöst wurden. Erst mit der sechsten MwSt.-Richtlinie zehn Jahre später wurde neben der Struktur der Steuer auch der Anwendungsbereich vereinheitlicht.

„Möglichkeiten zur Abweichung“

Die am 1. Jänner 2007 in Kraft getretene neue MwSt.-Richtlinie (Richtlinie Nr. 2006/112/EG) ersetzte 30 Jahre später die sechste Richtlinie. Damit wurden erstmals alle MwSt.-Regelungen in einem einzigen Rechtsakt zusammengefasst. Doch auch jetzt haben die Mitgliedstaaten „noch viele Möglichkeiten zur Abweichung“, stellte die EU-Kommission in einer Zusammenfassung ebenso nüchtern wie kritisch fest.

In der Richtlinie wird nicht einmal geregelt, welche MwSt.-Sätze die Mitgliedsstaaten anzuwenden haben, da lediglich Mindestsätze von 15 Prozent und fünf Prozent festgelegt wurden. Der ermäßigte Steuersatz ist auf ein bis zwei Produktgattungen pro Land beschränkt. Die Folge ist, dass die MwSt. derzeit zwischen fünf und 25 Prozent schwankt.

Streit ums Prinzip

Eine große „Unvollendete“ ist die 1957 fixierte MwSt.-Harmonisierung auch noch deshalb, weil auch in der Richtlinie von 2007 die Basis für die Einhebung der Steuer eine vorläufige ist - und durch eine endgültige Regelung nach dem Ursprungslandprinzip ersetzt werden sollte. Dazu kam es aber bis heute nicht. Die Regelung ist weiterhin provisorisch. Bereits 2010 stellte die Kommission in einem Grünbuch alle möglichen Systeme mit Vor- und Nachteilen zur Debatte - diese ist bis heute nicht abgeschlossen. Und eine Einigung auf ein einheitliches System ist auch nicht in Sicht.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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